Menschenhafen
senkt. Dennoch sprechen wir immer über das Meer. Wir haben den unterschiedlichen Teilen des Meers zum Zweck der Navigation und zur Benennung verschiedene Namen gegeben, aber wenn wir am Meer stehen, gibt es nur eins. Das Meer.
Wenn wir in einem kleinen Boot so weit draußen unterwegs sind, dass in keiner Himmelsrichtung Land in Sicht ist, können wir das Meer ins Auge fassen. Das ist keine angenehme Erfahrung. Das Meer ist ein blinder und tauber Gott, der uns umschließt und jede erdenkliche Macht über uns hat, ohne zu wissen, dass wir existieren.
Wir bedeuten weniger als das Sandkorn auf dem Rücken des Elefanten, und wenn das Meer Lust auf uns hat, wird es uns holen. Einfach so. Das Meer kennt weder Grenzen noch Rücksicht. Es hat uns alles gegeben, und es kann uns alles nehmen.
An andere Götter richtet sich unser Flehen: Beschützt uns vor dem Meer.
Flüstere in dein Ohr
Zwei Tage nach dem Sturm stand Anders auf der Wermutwiese und inspizierte sein Boot. Es lag kieloben auf Holzböcken und war ein deprimierender Anblick. Es hatte seine Gründe, dass er es fünf Jahre zuvor umsonst bekommen hatte.
Da es kein System zur Verwertung ausgedienter Plastikboote gab, blieben sie entweder liegen oder man schenkte sie jemandem, der Verwendung für sie hatte. War man wirklich fest entschlossen, das Elend loszuwerden, bestand der letzte Ausweg darin, sein Boot auf die Förde hinauszuschleppen, ein Loch in den Boden zu bohren und es zu versenken. Anders’ Boot schien bereit für diese letzte Fahrt.
Überall am Rumpf gab es Risse, und die Motorhalterung war gesprungen. Rund um die Einstecklöcher für die Dollen waren die Glasfasern so brüchig, dass sie vermutlich brechen würden, wenn man ruderte. Anders hatte zwar einen Motor, einen alten Johnson mit zehn PS, der im Schuppen stand, aber er war sich nicht sicher, ob er ihn zum Laufen bringen konnte.
Reparieren ließ sich das Boot im Grunde nicht, es ging nur darum, einen schwimmenden Untersatz zu haben. Etwas, das er zu Wasser lassen konnte, damit er nicht auf Simons Boot angewiesen war, wenn er seine Einkäufe erledigte.
Er ging auf den Bootssteg hinaus und wollte dabei vor allem sehen, ob er stabil genug war, um sich auf ihm zu bewegen. Al lerdings. Manche Bretter waren morsch, und ein Balken hatte sich aus der Verankerung gelöst, aber der Steg würde bestimmt noch ein paar Jahre halten.
Es wehte eine schwache Brise aus südöstlicher Richtung, und er musste die Hand um das Feuerzeug wölben, um sich eine Zigarette anzünden zu können. Er blies Rauch in den Wind, zog die Plastikflasche mit dem verdünnten Wein heraus, trank ein paar Schlucke und lauschte dem Rauschen des Schilfs am inneren Ende der Bucht. Es war zwar erst elf Uhr, aber er war bereits angenehm benebelt und betrachtete sorglos die grünen Schilfhalme, die sich in der Brise wiegten.
Ohne den Wein hätte er wahrscheinlich angefangen, sich Dinge einzubilden. Zwei Tage zuvor war in diesem Schilfröhricht Sigrids Leiche gefunden worden. Er war ein Meister darin, sich Sachen einfallen zu lassen, mit denen er sich selbst Angst einjagte. Simon hatte ihm erzählt, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte. Sigrid hatte keine vierundzwanzig Stunden im Wasser gelegen, als er sie gefunden hatte. Wo sie vorher gelegen hatte, wusste kein Mensch.
Zwei Kriminaltechniker in hohen Gummistiefeln waren durch das Schilf gestreift und hatten es durchsucht. Anders hatte am Schlafzimmerfenster gestanden und sie beobachtet, aber es hatte nicht danach ausgesehen, dass sie etwas gefunden hatten, was das Rätsel löste. Sie hatten niedergetrampeltes Schilf zurückgelassen und waren aufs Festland zurückgekehrt.
Nachdem er überprüft hatte, dass die Sperrholzplatte, die er vor das zerbrochene Fenster genagelt hatte, fest saß, ging Anders ins Haus, goss sich einen Kaffee ein und setzte sich an den Küchentisch. Die Zahl der Perlen auf der Stiftplatte lag mittlerweile bei gut hundert. Nach den allerersten hatte er selbst keine einzige mehr hinzugefügt. Das geschah nachts, nachdem er ins Bett gegangen war.
Er wartete noch immer auf eine Nachricht, und die Perlen gaben ihm nichts. Abgesehen von dem weißen Fleck wurden ausschließlich blaue Perlen benutzt.
Mit jedem Tag, der verging, spürte er Majas Anwesenheit stärker, aber sie weigerte sich, ihm eine deutliche Botschaft zu übermitteln. Er fürchtete sich nicht mehr, sondern fand die Gewissheit, dass etwas von seiner Tochter in der Welt verharrte, eher
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