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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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eine Kohlmeise. Der Vogel saß am hinteren Ende des Schuppens auf einer Plastikflasche, die auf der Arbeitsplatte stand. Wie ein Zirkusartist trippelte er umher und balancierte auf dem schmalen Verschluss der Flasche.
    Anders machte einen Schritt in den Schuppen hinein. Der Vogel bewegte sich unruhig, sodass seine Krallen über das Plastik schabten. Die schwarzen Augen glänzten, und Anders wusste nicht, wohin sie sahen. Er lehnte sich vor und flüsterte: »Maja? Bist du das, Maja?«
    Der Vogel reagierte nicht. Anders streckte ihm die Hand entgegen. Sachte, zentimeterweise. Als er kurz davor war, die Federn zu berühren, zuckte der Vogel zusammen und flog aus dem Schuppen. Anders blieb mit ausgestreckter Hand zurück, als hätte er versucht, ein Trugbild einzufangen. Stattdessen schlossen sich seine Finger um den Hals der Flasche.
    Er blickte zur Tür hinaus, aber der Vogel war verschwunden. In Ermangelung von etwas anderem musterte er die Flasche in seiner Hand. Sie war mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt, die weder wie Kraftstoff noch wie Öl aussah. Er schraubte den Verschluss ab, und ein bitterer Geruch entwich. Er hatte keine Ahnung, was das sein konnte. Als er den Verschluss wieder zuschraubte, drehte er die Flasche gleichzeitig halb, und ein handgeschriebenes Etikett tauchte auf.
    Er erkannte die Handschrift. Diese schnörkeligen, zittrigen Buchstaben waren typisch für seinen Vater gewesen. Auf ein Stück abgerissenes Kreppband hatte er »WERMUT« geschrieben. Die Flasche enthielt also eine Art Wermutkonzentrat, mit dem vielleicht Insekten bekämpft werden sollten. Oder Rehe.
    Anders schüttelte den Kopf. Wermut war giftig, und diese Flasche hatte hier ganz offensichtlich schon gestanden, als Maja auf dem Grundstück gespielt hatte.
    Typisch schlechte Eltern.
    Als verspätete Buße schraubte Anders den Deckel besonders fest zu und stellte die Flasche auf das Regal über der Arbeitsplatte, an das Maja niemals herangekommen wäre. Anschließend kehrte er zum Hackklotz zurück und holte die Schubkarre. Bevor er das frisch gehackte Holz in den Brennholzschuppen legen konnte, musste er die alten, trockenen Scheite umräumen, damit sie ganz außen lagen.
    Erneut stellte er fest, dass die Arbeit ihm den Frieden des Vergessens bescherte, der ihm inzwischen wünschenswert erschien. Eine gute Stunde später hatte er den Holzschuppen umgeräumt und konnte das neue Brennholz hineinfahren. Als er die Schubkarre gegen die Schuppenwand lehnte, war die Dämmerung bereits dabei, das Licht am Himmel zu dimmen. Er zog seine Handschuhe aus und rieb sich die Hände, während er den mehr als gut gefüllten Holzvorrat betrachtete.
    Ein Tagwerk. Ein gutes Tagwerk.
    Nach seinem Arbeitseinsatz hatte er einen Bärenhunger und bereitete ein Abendessen zu, das aus einer großen Menge Makkaroni und einem halben Kilo Fleischwurst bestand. Als er gegessen und eine Zigarette geraucht hatte, blieb er lange sitzen und sah aus dem Fenster. Ihm tat alles weh, und er fühlte sich fast wie ein richtiger Mensch.
    Er überlegte, ob er einen Spaziergang zu Elin machen und schauen sollte, ob sie sich ein bisschen, oder auch viel, richtigen Wein mit ihm teilen wollte, aber zum einen war sie die letzten zwei Tage nicht da gewesen und vermutlich nicht zu Hause, und zum anderen würde er wahrscheinlich keinen Wein benötigen, um diese Nacht schlafen zu können. Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten.
    Zusammenkunft
    Simon hatte die Nase voll.
    Der Fund von Sigrids Leiche und das, was danach passiert war, hatten das Fass zum Überlaufen gebracht. Er konnte einfach nicht länger die Augen davor verschließen, was in fünfzig Jahren immer näher gerückt war. Jetzt reichte es ihm.
    Die Geschichte von seiner Entfesselungsnummer am Schiffsanleger war im Laufe der Jahre zwischen ihm und Anna-Greta geschliffen, abgestimmt und abgerundet worden, bis sie heute das erzählerische Juwel war, das sie vor vier Tagen erst Anders erzählt hatten, dem letzten in einer langen Reihe von Zuhörern. Die Geschichte einer Heldentat und vom Erwachen der Liebe.
    Natürlich war es auch diese Geschichte. Aber es fehlte etwas Entscheidendes. Etwas, worauf er Anna-Greta damals angesprochen hatte, die sich jedoch geweigert hatte, sich damit auseinanderzusetzen, weshalb sie es aus der offiziellen Geschichte ausgeschlossen hatten. Es störte.
    Aber Simon wusste noch sehr gut. Was wirklich passiert war.
    Anfangs war es eine ungewöhnlich einfache Entfesselungsnummer gewesen. Es waren nur

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