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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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verstehen nicht.
    Nachdem Maja verschwunden war, hatte er sie immer in sich getragen. Er hatte stumm mit ihr gesprochen, manchmal auch laut. Mit der Zeit hatte sich ein deutliches Bild von ihr herauskristallisiert. Da sie nicht mehr lebte, konnte sie sich auch nicht verändern, und er hatte sie in sich getragen wie eine Puppe, ein eingefrorenes Abbild, dem er sich zuwenden konnte.
    »Aber so ist es nicht mehr«, sagte er in den Raum hinein. »Jetzt frage ich mich, was du machst. Wie es dort aussieht, wo du bist, und was mit dir geschieht. Ich habe ziemlich große Angst und wünsche mir, dich wiedersehen zu dürfen. Das wünsche ich mir von allem am meisten.« Anders kamen die Tränen, und sie liefen auf Majas Kissen herab. »Ich will dich einfach nur wiedersehen dürfen. Dich umarmen. Das wünsche ich mir. Das wünsche ich mir.«
    Anders zog die Nase hoch, strich sich über die Augen und wischte die Tränen weg. Er setzte sich auf der Bettkante auf und zog die Schultern zusammen, kauerte sich zusammen wie ein Kind, das sich davor fürchtet, ausgeschimpft zu werden. Sein Blick fiel auf den Stapel Tino-Tatz-Comics unter dem Bett, und er griff nach dem obersten. Nummer 2, 1993. Er hatte auf dem Trödelmarkt einen ganzen Stapel gekauft, damit Maja etwas zu lesen, oder vielmehr zu gucken, hatte, wenn sie auf Domarö waren.
    Der Umschlag zeigte Tino Tatz, Klein-Hops und Schalenmann auf einem Schiff, unterwegs zu einer nebelumhüllten Insel. Klein-Hops sah wie üblich extrem ängstlich aus. Anders legte sich auf dem Rücken in Majas Bett und begann zu lesen.
    Die Geschichte handelte von Kapitän Buster und einem vergrabenen Schatz, der sich als Bluff herausstellte. Anders las und lächelte über die typischen Wortwechsel, die er neben Maja sitzend so oft und in unterschiedlichen Versionen vorgelesen hatte:
    »Warte, Tino Tatz! Ich habe Donnerhonig.«
    »Puh … danke, Klein-Hops … puh!«
    »Ojeojeoje! Er hat die Tube fallen lassen. Jetzt ist es aus.«
    Anders las weiter, es folgte eine Geschichte über Kater Janssons Eitelkeit. Von Zeit zu Zeit nahm er einen Schluck aus der Weinflasche. Als er das Heft durchhatte und eine Weile das Bild auf der hinteren Umschlagseite betrachtet hatte, das zwei Kinder mit Tino-Tatz-Mützen zeigte, die man für nur achtundfünfzig Kronen käuflich erwerben konnte, sah er sich auf einmal selbst.
    Er lag mit einem Tino-Tatz-Heft in der einen Hand und seiner Flasche mit Sauger in der anderen in Majas Bett. Er lachte auf. Milch oder Brei hatte Maja aufgehört zu trinken, als sie kleiner war, aber selbst als Sechsjährige hatte sie ihren Saft immer noch aus einer Saugflasche trinken wollen, an der sie im Liegen nuckeln konnte, während sie sich Tino-Tatz-Hefte anschaute oder eine Kassette hörte.
    Er begriff, was er da tat. Solange Majas Bett leer stand und ihre Comics ungelesen herumlagen, hinterließ sie eine Leere. Wenn er sie nicht ausradieren und ihre Sachen wegwerfen wollte, musste irgendetwas diese Leere ausfüllen, und dazu benutzte er sich selbst. Indem er ihre Erinnerungen lebte und tat, was sie getan hatte, war sie nicht verschwunden. Was sie geliebt hatte, lebte noch.
    »Außerdem gibt es dich ja. Irgendwo.«
    Als er aus dem Bett aufstand, hatte er schwere Beine.
    Im Flur zog er den fluseligen Helly-Hansen-Pullover an, den Maja das Bärenfell genannt hatte, und ging zum Hackklotz.
    Wenn er den Winter in Smäcket verbringen wollte, brauchte er Brennholz, viel Brennholz. Das bisschen Geld, das er von seinem Vater geerbt hatte, ging allmählich zur Neige, und er konnte es sich nicht leisten, das Haus mehr als unbedingt nötig mit Strom zu beheizen.
    Ein Berg von Baumstämmen, die Holger im letzten Winter geliefert hatte, lag immer noch herum und wartete darauf, bearbeitet zu werden. Anders holte die Kettensäge aus dem Werkzeugschuppen, füllte Benzin und Kettenöl ein, sandte ein kurzes Stoßgebet gen Himmel und riss am Seilzug. Die Säge sprang natürlich nicht an, etwas anderes hatte er auch gar nicht erwartet.
    Als er ungefähr dreißig Mal am Seilzug gerissen hatte, wurde sein rechter Arm allmählich taub, und er war in Schweiß gebadet. Die Säge gab kein Lebenszeichen von sich. Er holte einen Kreuzschlitzschraubenzieher und einen Sechskantschlüssel, schraubte die Zündkerze los und säuberte den Zündkontakt. Vielleicht war sie nur ein bisschen verrostet.
    Als sie wieder festgeschraubt war, zündete er sich eine Zigarette an, trank einen Schluck Wein und starrte die Säge

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