Menschenhafen
einfach und gleichzeitig so unendlich kompliziert wie die Prozesse, die ein bestimmtes Blatt in einem ganz bestimmten Augenblick herabfallen lassen. Man ist einfach zu diesem Punkt gelangt. Es muss geschehen, und es geschieht.
Das Blatt, von dem hier die Rede ist, bedarf keiner näheren Beschreibung. Es war ein ganz normales Ahornblatt im Herbst. Von der Größe einer Untertasse, ein paar schwarze und dunkelrote Flecken auf einem gelben und orangefarbenen Grund. Sehr schön und gänzlich unspektakulär. Die Zellulosefäden, die den Stängel auf halber Höhe des Baums an einem Zweig befestigt hatten, waren vertrocknet, die Schwerkraft wurde übermächtig. Das Blatt löste sich und fiel zur Erde.
Nachdem Göran gegangen war, um mit Holger zu sprechen, blieb Simon noch längere Zeit auf dem Bootssteg stehen und blickte spähend aufs Wasser hinaus. Er suchte nach etwas, das so schwer zu sehen war wie Land in dichtem Nebel, aber eigentlich war es sogar noch schlimmer: Er wusste nicht einmal, wonach er suchte.
Er gab auf und wandte sich der Landseite zu, um ins Haus zu gehen und eine Tasse Kaffee zu trinken. Als er den Steg mit schwingenden Armen und nach innen gekehrtem Blick verließ, sah er eine flimmernde Bewegung und spürte im nächsten Moment ein Streicheln auf seiner Hand. Er blieb stehen.
Ein Ahornblatt lag wie angeklebt auf seinem Handteller. Er sah auf und schaute in die Baumkrone. Es fielen keine anderen Blätter. Ausgerechnet dieses eine Blatt, das er unfreiwillig in der Hand hielt, hatte sich gelöst, war herabgesegelt und hatte seine Hand getroffen, als er an dem Baum vorbeikam.
Er hob die Hand und studierte die Blattnerven, als versuchte er, eine fremde Schrift zu deuten. Da war nichts, das Blatt hatte ihm nichts mitzuteilen. Der Wind hielt den Atem an, und alles war still.
Hier bin ich.
Ein plötzliches und überraschendes Glücksgefühl wallte in ihm auf. Simon schaute sich um, und fast wären ihm die Tränen gekommen. Er empfand überbordende Dankbarkeit dafür, leben zu dürfen. Im Herbst unter einem Baum hergehen zu können, sodass ein Blatt fallen und seiner Hand begegnen durfte. Das war die Mitteilung des Blatts, eine Erinnerung: Es gibt dich. Ich fiel, und du kamst dazwischen. Ich liege nicht auf der Erde. Also gibt es dich.
Nein, das Blatt lag nicht auf der Erde, und Simon lag auch nicht tot unter dem Apfelbaum oder tot im Schilf. Ihre Bahnen hatten sich gekreuzt, und hier standen sie nun. Mag sein, dass Simon nach allem, was vorgefallen war, besonders sensibel reagierte, aber die Sache kam ihm jedenfalls vor wie ein Wunder.
Er wollte nicht mehr ins Haus zurückgehen, seine Schritte änderten stattdessen die Richtung, und mit dem Blatt in sei ner Hand nahm er Kurs auf Anna-Gretas Haus, während ihm ein paar Zeilen aus einem Lied Evert Taubes durch den Kopf gingen.
Ja, wer hat denn gesagt, dass gerade du hören und sehen, dem Rauschen der Wogen lauschen und singen können wirst?
Die herbstliche Welt, die ihn umgab, war schön, und er ging mit vorsichtigen Schritten, als ob er sie nicht stören wollte. Behutsam öffnete er Anna-Gretas Tür und schlich sich in den Flur, wo er stehen blieb und den vertrauten Duft im Haus seiner Geliebten genoss.
Anna-Gretas Stimme schallte ihm aus der Küche entgegen. Sie telefonierte, und Simon blieb im Flur stehen und verweilte in dem Gefühl, dass die Welt heilig war und jede Sinneswahrnehmung ein Geschenk. Er sog den Duft ihres Hauses ein, er hörte ihre Stimme. Gleich würde er sie sehen.
»Nein«, sagte Anna-Greta in der Küche. »Ich meine nur, dass wir alle darüber reden müssen. Es hat sich etwas verändert, und wir haben keine Ahnung, was das bedeutet.«
Simon runzelte die Stirn. Er wusste nicht, mit wem Anna-Greta sprach oder worüber sie sich unterhielt, sodass er das Gefühl hatte, sie zu belauschen. Er wandte sich um und wollte die Tür schließen, um seine Anwesenheit kundzutun, als Anna-Greta erklärte: »Sigrid ist der einzige Fall, der mir bekannt ist, und ich weiß beim besten Willen nicht, was das heißt.«
Simon zögerte und packte dann die Klinke. Kurz bevor die Tür zuschlug, hörte er Anna-Greta sagen: »Also übermorgen?«
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und Simon ging mit lauten Schritten durch den Flur. Er erreichte die Küche rechtzeitig, um Anna-Greta noch »Schön. Abgemacht« sagen zu hören. Sie legte auf.
»Wer war das?«, fragte Simon.
»Nur Elof«, antwortete Anna-Greta. »Möchtest du einen
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