Menschenhafen
Ketten benutzt worden, und Ketten bereiteten ihm nur selten Probleme. Noch während er in dem Sack stand, hatte er sich von den meisten befreit und außerdem das Schloss der Handschellen mit einem Dietrich geöffnet.
Als der Stoß, der ihn ins Wasser beförderte, schließlich kam, hatte er damit gerechnet, maximal noch eine halbe Minute zu benötigen, um sich aus den letzten Ketten und dem Sack zu befreien. Anschließend brauchte er nur zu den Bootsstegen zu tauchen und um des besseren Effekts willen ein oder zwei Minuten zu warten.
Der Sack plumpste ins Wasser, und er sank. Er hatte gelernt, die Atemwege in der Nase so zu verschließen, dass er den Druck ohne Zuhilfenahme von Fingern ausgleichen konnte. Auf seinem Weg zum Meeresgrund presste er zweimal, damit die Trommel felle sich richtig formten und das Knistern und der Schmerz im Kopf gedämpft wurden. Er schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, während kaltes Wasser in den Sack drang und seine Glieder starr werden ließ.
Wenn man lange unter Wasser blieb, lag die große Gefahr nicht im Sauerstoffmangel. Er war so durchtrainiert, dass er über drei Minuten die Luft anhalten konnte. Nein, die eigentliche Gefahr war die Kälte. Nach einer Minute verloren die Finger mehr und mehr die Fähigkeit, präzise Bewegungen auszuführen. Deshalb versuchte er, die Handschellen immer möglichst schnell abzuhaken.
Das Problem war diesmal erledigt. Als sein Körper auf den Meeresgrund schlug, musste er sich nur noch ein wenig winden und anschließend mit dem angespitzten Dietrich den Sack aufschneiden, um seinem Triumph entgegenschwimmen zu können.
Als er gerade die vorletzte Kette über seine Schulter bugsierte, wurde das Wasser über ihm plötzlich schwerer. Irgendetwas legte sich auf ihn. Sein erster Gedanke war, dass jemand vom Schiffsanleger aus etwas ins Wasser geworfen hatte. Etwas Großes und Schweres. Er wurde auf den Grund gedrückt und musste alle Kraft aufbieten, um zu verhindern, dass die Luft nicht aus seiner Lunge gepresst wurde.
Er schlug die Augen auf und sah nur Dunkelheit. Die Kälte, die von außen seiner Haut zusetzte, bekam nun von innen Hilfe in Gestalt eines kalten Grauens. Sein Herz begann schneller zu schlagen und zehrte den wertvollen Sauerstoff auf, den er noch hatte. Er versuchte zu verstehen, was auf ihm liegen mochte, um sich besser aus dem Würgegriff befreien zu können. Er fand nichts. Es hatte keine Konturen, keine Scharten. Sein erstes Gefühl kam dem Phänomen noch am nächsten: Das Wasser war schwer geworden.
Er drohte in Panik zu geraten. Seine Augen hatten sich inzwischen an das schwache Licht gewöhnt, das durch Sackgewebe und sechs Meter Wasser drang. Als zwischen seinen Lip pen einige Luftblasen entwichen, sah er sie als verschwommene Reflexe.
Ich will nicht sterben. Nicht so.
Mit einem Kraftakt gelang es ihm, sich im Schraubstock des Wassers so zu winden, dass die letzten Ketten von ihm abfielen. Es blieb ihm noch etwas Zeit. Als er trainierte, möglichst lange die Luft anzuhalten, hatte Marita ihm mehrmals assistiert, und bei diesen Gelegenheiten hatte er es gewagt, bis an seine Grenzen zu gehen. Deshalb kannte er die Anzeichen für eine bevorstehende Ohnmacht. Sie waren noch nicht aufgetreten.
Aber es gelang ihm nicht, sich von dem Gewicht zu befreien. Es ruhte auf ihm wie ein riesiger Mörserstößel, und der Sack war das Pfefferkorn auf dem Boden des Mörsers.
Mit dem Dietrich gelang es ihm, den Sack aufzureißen, woraufhin er mit einem Zipfel richtigen Tageslichts belohnt wurde. Er lag auf dem Rücken, auf den Meeresgrund gepresst, und erblickte weit über sich die Konturen der Menschen auf dem Schiffsanleger und den blauen Himmel. Keiner hatte etwas geworfen, es lag nichts auf ihm. Außer Wasser. Sechs Meter undurchdringliches Wasser.
Die Kälte hatte ihn jetzt ernstlich im Griff, und in seinem Körper breitete sich eine Ruhe aus, die Wärme glich. Er entspannte sich und hörte auf, dagegen anzukämpfen. Es blieb ihm noch mindestens eine Minute, bis es vorbei war. Warum sollte er diese Minute damit verbringen, zu kämpfen und sich zu sträuben? Er hatte sich aus Ketten, Handschellen und Seilen befreit, wusste jedoch, dass er sich nicht vom Wasser lösen konnte. Er war also doch noch besiegt worden.
Alles war schön.
Hilflos und still lag Simon auf dem Grund. Ja, wie tot lag er, und durch die Risse im Gewebe sah er den Himmel und schemenhafte Gestalten, die auf ihn warteten. Es waren die Engel,
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