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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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die ihn zu sich riefen, bald würde er bei ihnen sein. In der Finsternis war er, aber schon bald würde er zum Licht kommen, und das war gut so.
    Er wusste nicht, wie lange er so gelegen hatte. Vielleicht ein oder zwei Minuten, vielleicht auch nur zehn Sekunden, als das Wasser auf einmal leichter wurde. So sanft wie ein Schleier wurde das Gewicht fortgezogen, und er war frei.
    Mit einer Seelenruhe, die er später kaum fassen konnte, dachte er nur etwas in der Art wie: Sieh an, das passiert also stattdessen. Dann befreite er sich aus dem Sack und schwamm mit gleichmäßigen Zügen zum hinteren Bootssteg. Nichts griff nach ihm, nichts wollte ihm Böses. Es gab kein Gewicht, nur Leichtigkeit. Als er im Schutz der Boote auftauchte, atmete er tief ein, und erst in diesem Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Er klammerte sich an die Bordwand des nächstgelegenen Ruderboots und schaffte es so, sich vor dem Ertrinken zu bewahren. Ruhig atmete er ein und aus, und die Welt nahm langsam wieder Gestalt an.
    Auf dem Schiffsanleger hörte er jemanden »Drei Minuten!« rufen und konnte nicht glauben, dass dieser Ruf ihm galt. Er war wesentlich länger fort gewesen.
    Simon hing an der Bordwand und versuchte sich im Dasein zurechtzufinden. Als die Stimme auf dem Schiffsanleger »Vier Minuten!« rief, war er wieder bei Sinnen. Er nahm den schwachen Duft von Teer wahr, den das Holzboot verströmte, den Geschmack von Salz und altem Grauen in seinem Mund, die stechende Kälte in seinen Muskeln.
    Ich lebe .
    Er schwamm zum Ufer und konnte nach ein paar Metern, sich hinter den Booten duckend, auf dem Grund gehen. Er kletterte auf die Steine, und der Rest der Geschichte stimmte mit der offiziellen Version überein.
    Dies war die erste in einer ganzen Reihe von Begebenheiten, über die er im Laufe der Jahre hinweggesehen hatte. Menschen waren unter mysteriösen Umständen verschwunden, er hatte Spiritus gefunden, und Maja hatte sich in Luft aufgelöst. Er hatte sich versichern lassen, dass alles war, wie es sein sollte, weil es so am einfachsten war und die Alternative sich nicht in Worte fassen ließ. Die Vorstellung, dass es eine Art stillschweigende Verschwörung unter den ganzjährigen Bewohnern Domarös gab, erschien ihm lächerlich. Dennoch fragte er sich allmählich, ob nicht das die Wahrheit war.
    Simon zog seine alte Lederjacke über den Blaumann und ging hinaus. Es gab einen Faden, an dem er ziehen würde, um zu versuchen, eine Reaktion auszulösen. Dieser Faden hieß Holger. Der Fund Sigrids hatte ihn ganz offensichtlich erschüttert, denn er zeigte sich nicht und war möglicherweise so aus dem Gleichgewicht, dass man mit ihm ins Gespräch kommen konnte.
    Es war vier Uhr nachmittags, und über die Bucht schallte das Geräusch von Axthieben herüber. Simon nickte für sich. Anders war offenbar bei der Arbeit, und das war gut. Die dumpfen Laute eines Holzklotzes, der wiederholt gegen den Hackklotz geschlagen wurde, ließen darauf schließen, dass er sich das trockene Fichtenholz vorgenommen hatte.
    Oh ja. Da hat er gut zu tun.
    Das Dorf lag verwaist im sanften Nachmittagslicht. Die Schulkinder waren nach Hause gekommen, und nun saßen vermutlich alle beim Essen. Simon blickte zum Schiffsanleger hinunter und dachte an jenen Tag vor langer Zeit zurück, an dem er hier zum ersten Mal an Land gegangen war. Verblüffend wenig hatte sich seither verändert. Aus den Holzbooten rund um den Bootssteg waren Plastikboote geworden, und eine Art Transformatorstation stand verhalten brummend am Fuß des Schiffsanlegers, aber ansonsten sah alles noch so aus wie früher.
    Das Wartehäuschen war abgerissen und durch ein neues ersetzt worden. Die Fischerhütten standen mittlerweile unter Denkmalschutz und hatten sich folglich nicht verändert, die Dieselzisterne stand immer noch an ihrem Platz und verdeckte den Weg zum Dorf hinauf, das Sanddorngestrüpp war möglicherweise etwas höher geworden, wuchs aber, wo es immer gewachsen war. Diese Dinge hatten ihn an Land gehen gesehen, hatten ihn fast ertrinken gesehen und sahen ihn nun durch das menschenleere Dorf gehen und auf seinem Weg kleine Steine vor sich hertreten.
    Ihr wisst mehr als ich. Viel mehr .
    Er war so mit seinen eigenen Füßen beschäftigt, dass ihm das Licht im Missionshaus erst auffiel, als er direkt davor stand. Außer samstagsmorgens, wenn sich eine spärliche Schar älterer Dorfeinwohner versammelte, um Kaffee zu trinken und zur Begleitung eines Harmoniums Kirchenlieder zu singen,

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