Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
eine Frau, die nach erfolgreichem Suizid etwa 10 Tage in ihrer warmen, sommerlichen Wohnung vor sich hingefault hatte. Noch am gleichen Abend war er mit seinem Boss übereingekommen, dass an eine weitere Karriere als Bestattungsgehilfe nicht zu denken war, und der Gestank, den die teilweise verweste Leiche abgesondert hatte, war ihm mindestens ein halbes Jahr nicht aus der Nase gewichen.
Genau jenen Geruch, jenen fiesen Gestank, nahm er an diesem Abend in dem verlassen wirkenden, alten Haus im Kasseler Stadtteil Rothenditmold wahr, und er war sich sofort sicher, dass in diesem Gebäude ein menschlicher Körper am Verwesen war.
Langsam und vorsichtig setzte er die Isolierkiste mit den drei vermutlich schon auf Zimmertemperatur abgekühlten Pizzen darin auf der zweiten Treppenstufe von unten ab, prüfte kurz, dass sie sicher stand und richtete sich wieder auf. Dann leuchtete er auf der Suche nach einem Lichtschalter den kompletten Hausflur noch einmal mit seiner Lampe ab und nun wurde er fündig. Links von der Eingangstür, also hinter dem aufschwingenden Flügel, entdeckte der Pizzabote einen altertümlichen Drehschalter, ging darauf zu und bewegte ihn nach rechts, doch es passierte nichts. Er drehte in die andere Richtung, mit dem gleichen Ergebnis.
Verschwinde aus diesem Hausflur, ruf die Bullen, und lass die ihren Job machen , wummerte es ihm durch den Kopf, und das Bild der Selbstmörderin, das ihn monatelang nicht losgelassen hatte, tauchte erneut vor seinem geistigen Auge auf. Hübner drehte sich um, richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf die Isolierkiste und war schon auf dem Weg dorthin, als er es sich anders überlegte, den Kasten rechts stehen ließ und auf die knarrende Treppe stieg.
Und wenn nur im Keller eine verreckte Katze vor sich hingammelt? , fragte er sich zögernd.
Nein, hier riecht es nach totem Menschen. Hier riecht es genau wie damals, in der Wohnung dieser Selbstmörderin.
Lass es! Verschwinde, du Idiot!
Die Stimme aus dem Unterbewusstsein meldete sich erneut, und diesmal sehr eindringlich. Hübner blieb stehen, ließ erneut die Lampe kreisen, stieg danach zurück, griff sich mit einem über den Rücken laufenden Schauer die Pizzakiste und verließ wie von Furien gejagt das Haus.
19
Watane Origawa warf einen erneuten Blick auf ihre Armbanduhr. Viertel nach acht, und von ihrer Verabredung war weit und breit nichts zu sehen. Seit mehr als einer halben Stunde stand sie nun in einer Nische gegenüber der Kneipe, in die sie Yoko Tanaka, die Rezeptionistin von Nipimex und Großcousine von Daijiro Tondo, bestellt hatte. Zwei groß gewachsene Männer traten durch die Tür und stiegen in einen Wagen auf der anderen Straßenseite. Watane trippelte, während sie das Treiben in und um den ebenso belebten wie beliebten Treffpunkt beobachtete, von einem ihrer eiskalten Füße auf den anderen.
Es vergingen weitere zehn Minuten, in denen nichts passierte, ehe sie ihre Verabredung über die Straße laufen und auf die Kneipe zuhalten sah. Nach ein paar weiteren Minuten, während deren sie die Straße intensiv beobachtet hatte, trat sie aus ihrem Versteck und schob sich kurz darauf ebenfalls durch die Tür.
»He, hier!«, schrie Yoko Tanaka gegen die irrsinnig laute Musik an, nachdem sie Watane erkannt hatte, und winkte freundlich mit den Armen. Sie stand an der Theke und wartete offenbar auf ein Getränk.
»Willst du auch etwas? Ich gebe einen aus.«
»Ja«, schrie Watane zurück. »Eine Cola hätte ich gerne.«
Nachdem die Getränke serviert und die beiden Frauen sich in eine ruhigere Ecke zurückgezogen hatten, eröffnete Yoko nach ein paar belanglosen Phrasen zum Wetter und ihren kalten Füßen das Gespräch.
»Ist nicht dein Ernst, dass du wirklich bei Nipimex anfangen willst zu arbeiten, oder?«
Sie musste nun deutlich weniger laut schreien, um sich verständlich zu machen, allerdings war es noch immer laut genug, damit niemand die beiden belauschen konnte.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Watane unsicher. »Nachdem du mich heute Morgen so eindringlich gewarnt hast, habe ich natürlich noch mal gründlich darüber nachgedacht.«
»Und? Mit welchem Ergebnis?«
»Das weiß ich eben noch nicht. Vielleicht kannst du mir ja noch etwas mehr erzählen?«
Yoko sah sich konspirativ um, bevor sie antwortete.
»Wenn ich dir alles erzähle, was ich weiß, bin ich vermutlich morgen meinen Job los. Oder tot, wer weiß das schon?«
»Du spinnst!«
»Nein, das mache ich garantiert nicht. Ich
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