Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
ich mich nicht in gebührendem Maße für ihr Herkunftsland interessieren würde.«
Er wurde wieder ernst.
»Die Sache mit dem abgetrennten Fingerglied ist ein weiteres deutliches Zeichen dafür, dass der Mann, und vermutlich auch Ihr Toter, Mitglieder der Yakuza sind beziehungsweise waren.«
»Ist das so was wie ein Ritual?«, wollte Hain wissen.
»Nein, das nicht. Es ist eher so etwas wie eine Strafe.«
»Den Männern wurde zur Strafe ein Fingerglied amputiert?«, zeigte der Hauptkommissar sich alles andere als überzeugt. »Das klingt für mich eher wie eine Geschichte aus dem Mittelalter.«
»Genau das ist es auch. Eine Geschichte, die ihren Ursprung im Mittelalter hat. Und das fehlende Körperteil wurde ihm nicht abgenommen, das hat er vermutlich selbst erledigt .«
Sowohl Lenz als auch Hain sahen den Mediziner irritiert an.
»Um Ihnen das genauer erklären zu können, muss ich ganz tief in meinem Gehirn kramen. Es geht dabei nämlich um genau jene geschichtlichen Zusammenhänge, von denen ich vorhin gesprochen habe und um deren Erinnerung es bei mir schon wieder ein wenig blass geworden ist.«
Er fuhr sich mit den Handflächen über die Wangen und durch die Haare, bevor er weitersprach.
»Also, meine Herren, aber ohne jegliche Gewähr«, nahm er den Faden wieder auf. »Die Geschichte der Yakuza ist eng verbunden mit den teilweise wirklich archaischen japanischen Ehrenkodizes. Sie wissen schon, Harakiri und so weiter. Nach meiner Kenntnis ist es so, dass ein Yakuza-Mitglied, das einen Fehler gemacht hat, durch den es sein Gesicht verlieren würde, diesen Makel durch das Opfern eines Fingergliedes tilgen kann. Er muss sich einfach mit dem Hammer oder einem speziellen Messer selbst ein Fingerglied abtrennen, dann passt alles wieder.«
»Madonna«, stöhnte Hain auf. »Wie um alles in der Welt kommt man denn auf so was?«
»Diese Frage ist leicht zu beantworten«, erklärte Dr. Berger selbstbewusst. »Das Prozedere gründet auf die Zeit der Samurai. Sie wissen, was Samurai bedeutet?«
Die beiden Polizisten nickten.
»Für die Samurai galten unumstößliche, quasi in Granit gemeißelte Ehrenkodizes. Hatte ein Samurai dagegen verstoßen oder sich in welcher Form auch immer unehrenhaft verhalten, hat er sein Gesicht verloren; in ganz Asien etwas zutiefst Verachtenswertes. Um seine Ehre zurückzuerlangen, blieb nur das Opfer eines Fingergliedes.«
»Warum gerade das?«, wollte Lenz wissen.
»Weil der Samurai«, schmunzelte der Arzt, »mit dem Verlust eines Fingergliedes sein Schwert nicht mehr zu 100 Prozent sicher führen konnte. Und mit jedem weiteren verlorenen Fingerglied, was durchaus nichts Ungewöhnliches war, lag die Waffe immer unsicherer in der Hand, bis zum bitteren Ende, was in der Regel den Tod bedeutete.«
»Also«, konstatierte Hain, »könnte man die beiden Japaner, mit denen wir es vermutlich hier zu tun haben, als übriggebliebene Samurai-Kämpfer betrachten?«
»Bitte nicht«, widersprach Berger. »Samurai waren eine besondere und besonders verehrte Sorte Mensch im alten Japan und sind in keiner Weise zu vergleichen mit heutigen Yakuzas, obwohl die das vermutlich gerne so sehen würden. Aber das hieße, Ehrenmänner mit Mördern und Dieben zu vergleichen.«
»Das ist alles sehr verwirrend«, fasste Lenz die Erklärungen des Mediziners zusammen. »Aber es hilft nichts, wir müssen mit Ihrem Patienten sprechen.«
»Dann kommen Sie, wie gesagt, am besten morgen früh wieder vorbei. Vorher geht wirklich gar nichts.«
»So machen wir es. Und zu Ihrer und unserer Sicherheit setzten wir einen Polizisten vor seine Zimmertür.«
»Würde es Ihnen helfen, wenn wir ihn im Bett fixieren?«
»Klar, wenn das geht.«
Dr. Berger nickte.
»Ich denke, in diesem Fall kann ich das verantworten.«
Lenz zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie dem Arzt.
»Nur für den Fall, dass irgendetwas Unvorhergesehenes passiert.«
»Danke.«
18
Robert Hübner stieg aus dem französischen Mittelklassewagen, warf die Tür zu, trabte im leichten Schneetreiben auf den Kofferraumdeckel zu und öffnete ihn mit einer geübten Bewegung. Sofort drang der charakteristische Geruch nach Pizza in seine Nase. Pizza, Pizza, Pizza, und ab und zu noch mal Spaghetti Bolognese, wenn es hoch kam; Salat hatte er schon seit Wochen nicht mehr transportiert. Aber wenigstens stank, seit er auf den alten Diesel aus Poissy mit dem echten, von der Fahrgastzelle abgetrennten Kofferraum umgestiegen war, der Innenraum
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