Menschensoehne
Damals verlief der Schulbetrieb reibungslos. Wir haben Höchstleistungen erzielt.«
»Auf Kosten der weniger Begabten.«
»Aber zu Gunsten von allen anderen.«
»Ich war auch in so einer Sonderklasse«, erklärte Erlendur. »Wahrscheinlich bin ich nur mäßig begabt und habe mich darüber hinaus schlecht benommen, aber ich kam zudem aus ärmlichen Verhältnissen, und das spielte meines Erachtens eine sehr wichtige Rolle bei der Verteilung auf die Klassen. Nach der zentralen Mittelschulprüfung, bei der ich durchfiel, habe ich aufgehört. Während meiner ganzen Schulzeit habe ich nie Interesse daran entwickelt, irgendetwas zu lernen, und kein Mensch hat Interesse daran gehabt, mir etwas beizubringen. Ich bekam sofort einen Stempel aufgedrückt, als ich in die Schule kam, und dieser Stempel blieb dann an mir haften. Das sind die Auswirkungen des Sonderklassensystems, aber du wirst wahrscheinlich trotzdem behaupten, dass es die Schüler fördert.«
»Du willst mit anderen Worten sagen, dass du nicht das Geringste über das Verteilen von irgendwelchen Medikamenten in der Schule gewusst hast, oder über die Experimente, die Halldór da heimlich mit seiner Klasse durchführte?«, fragte Sigurður Óli, um die offenkundige Feindseligkeit herunterzuspielen, die sich zwischen den beiden Männern aufgebaut hatte.
»Ich weiß nicht, wer euch diese Klatschgeschichten erzählt hat. Es ist vollkommen absurd, was ihr mir da auftischt, und ich muss schon sagen, ich bin mehr als erstaunt darüber, dass ihr so etwas überhaupt ernst nehmt. Entschuldigt mich jetzt bitte«, sagte Rútur und stand auf, »ich muss meine Frau in die Stadt fahren.«
Sie standen auf und verabschiedeten sich. Als Erlendur und Sigurður Óli wieder im Auto saßen, sagte Letzterer:
»Ich fand das gut mit der Sonderklasse. Diesem arroganten Heini hast du’s gegeben. Ich bin überzeugt, dass er wirklich geglaubt hat, du wärst in so einer Sonderklasse gewesen.«
»Das war ich auch«, sagte Erlendur.
Achtundzwanzig
In der großen Villa klingelte das Telefon, und er nahm den Hörer im Arbeitszimmer ab, das luxuriös und geschmackvoll eingerichtet war. Außerdem befanden sich dort diverse Computer, auf deren Bildschirmen die neusten Meldungen von den Börsen in New York, London und Tokio flimmerten. Das Büro war technisch so ausgestattet, dass er sich jederzeit mit jedem beliebigen Ort auf der Welt in Verbindung setzen und Konferenzen leiten konnte. Er nutzte diese Möglichkeit für gewöhnlich, denn Reisen in andere Länder unternahm er so gut wie gar nicht mehr. Er kam nur noch sehr selten nach Island. Sein Hauptstandort war in Deutschland.
Diese Anrufe, die ihn in letzter Zeit häufig auf seiner Privatleitung erreichten, begannen ihm auf die Nerven zu gehen. Nur wenige seiner engsten Mitarbeiter kannten diese Nummer, und sie waren sich dessen bewusst, dass sie nur sparsam davon Gebrauch machen durften, wenn sie im Kreis der Auserwählten bleiben wollten.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte er ungeduldig. »Sie verlangen, dass du mit dem Jungen nach Korea fliegst«, kam es vom anderen Ende der Leitung.
»Du weißt, dass das nicht in Frage kommt.«
»Der Vertrag steht auf dem Spiel. Der Mann will dich unbedingt treffen. Und er verlangt, dass du ihm ein Sample zeigst.«
»Höre ich da einen gewissen Unterton heraus?«
»Einen Unterton? Bei mir? Nein, keineswegs.«
»Auf wessen Seite stehst du eigentlich in dieser Angelegenheit – auf meiner oder auf der von diesen Koreanern?« »Du weißt, dass diese Frage völlig unangebracht ist. Aber sie sitzen mir im Nacken und geben keine Ruhe. Und nicht nur sie. Die Deutschen wollen auch, dass du nach Korea fliegst.«
»Sag ihnen, dass ich das nicht tun werde. Mit meinen Leuten in Deutschland werde ich reden. Wenn die Koreaner den Jungen unbedingt sehen wollen, sollen sie gefälligst hierher kommen. Aber ohne Aufsehen zu erregen, verstehst du? Auf keinen Fall darf die Presse davon Wind bekommen. Das können wir am allerwenigsten brauchen.«
»Ich werde es ausrichten.«
»Sonst noch etwas?«
»Da sind noch diese Kassetten. Mir ist etwas mulmig dabei.«
»Was gehen uns diese Kasseten an?»
»Glaubst du, dass Guðrún jetzt auspacken wird, nachdem die Zeitungen so ausführlich über Halldór berichten?«
»Auf sie und Rannveig haben wir uns doch immer hundertprozentig verlassen können. Sie waren sich über die Bedeutung des Unternehmens im Klaren. Als Rannveig starb, deutete nichts darauf hin,
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