Menschensoehne
Gefühls nicht erwehren, dass bei ihnen außer den nächsten Angehörigen nicht viele Leute zu Besuch kamen.
»Wie ich dir am Telefon gesagt habe …«, begann Sigurður Óli und sah den ehemaligen Schulleiter an, wurde aber sofort unterbrochen.
»Findet ihr es nicht bedauerlich, dass das Siezen abgeschafft worden ist?«, fuhr die Ehegattin dazwischen, indem sie ihre Blicke von Sigurður Óli zu Erlendur schweifen ließ. »Ach, was waren das noch für Zeiten, als man sich höflich siezte. Erinnerst du dich, Rútur, als wir uns endlich dieses große Gemälde von unserem guten Freund Gunnlaugur Scheving angeschafft haben?«, sagte sie zu ihrem Mann. Sie wandte sich halb um und deutete auf das Bild. »Das hier. Scheving war so vornehm und so ausgesucht höflich. Ach ja, das hatte Stil. Das ist alles vorbei.«
»Ich war immer darum bemüht, in der Schule das Sie beizubehalten, wie du weißt«, sagte Rútur im Brustton der Überzeugung und blickte Erlendur und Sigurður Óli an. »Ja«, erwiderte Erlendur kurz angebunden. »Aber wir sind wegen Halldór Svavarsson hier. Du …«, sagte er sehr betont, »… hast selbstverständlich erfahren, was passiert ist.«
»Oh mein Gott, ja«, sagte die Gattin. »Was für eine grauenvolle Tat, den Mann anzuzünden. Wir kannten ihn allerdings nicht sehr gut. Rútur hat mir auch gesagt, dass Halldór immer etwas eigenartig gewesen sei – die ganzen Jahre hat er da an der Schule unterrichtet und keinerlei Kontakt zu anderen geknüpft. Mit solchen Leuten stimmt doch etwas nicht.«
»Halldór war schon etwas seltsam, so im Nachhinein betrachtet«, sagte Rútur.
»Hat er eigentlich hier in unserem Viertel gewohnt?«, überlegte die Gattin. »Früher war es eine ausgesprochen gepflegte Wohngegend, aber jetzt, also, ich weiß nicht. Es hat geradezu den Anschein, als seien sämtliche besser situierten Leute weggezogen. Ich habe Rútur gleich gesagt, dass wir uns nach seiner Pensionierung nach etwas anderem umsehen müssten, in Fossvogur beispielsweise, eine erstklassige Wohngegend, findet ihr nicht? Aber nein, er wollte nicht.«
»Du kannst uns vielleicht Auskunft darüber geben, Rútur, ob es in deiner Zeit an der Schule Vorfälle gegeben hat, bei denen sich entweder Eltern oder Schüler über Halldór beschwert haben?«
»Großer Gott, soll das heißen, wir hatten die ganze Zeit einen Kinderschänder unter uns?«, mischte sich die Gattin wieder ein. Erlendur beschloss, dass es so nicht weitergehen konnte.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er und blickte die Frau scharf an. »Würden Sie uns vielleicht gestatten, mit Ihrem Gatten zu reden, ohne dass Sie sich ständig einmischen?« »Also, ich muss schon sagen«, empörte sich die Gattin, »ist das der Dank dafür, dass man so hilfsbereit und zuvorkommend ist? Dass sich ausgerechnet die Polizei das erlauben kann, einem unverschämt zu kommen!« Sie war aufgestanden und schaute ihren Mann an. Rútur rührte sich nicht und sagte keinen Ton. »Bitte schön!«, erklärte sie. »Ich überlasse die Herren der Schöpfung sich selbst. Unerhört!«
»Bitte entschuldigt«, sagte Rútur, als sie das Zimmer verlassen hatte, »aber meine Frau fühlt sich etwas einsam.«
»Halldór?«, insistierte Erlendur.
»Ja. Nein, nicht ein einziges Mal bin ich gewahr geworden, dass Halldór irgendwelche abnormalen Neigungen gezeigt hat. Falls er den Kindern gegenüber anstößiges Verhalten an den Tag gelegt haben sollte, ist jedenfalls nie darüber geredet worden, und ich halte es im Grunde genommen für ausgeschlossen, dass er an meiner Schule irgendwelche perversen Neigungen ausgelebt hat. So etwas lässt sich doch nicht geheim halten.«
»Laut der Aussage eines Mannes, der sich inzwischen das Leben genommen hat, konnte an deiner Schule vieles geheim gehalten werden«, warf Sigurður Óli ein. »Der bewusste Mann war 1967 in der Abschlussklasse an deiner Schule, Klasse 6 L, zusammen mit sieben anderen Jungen. Die 6 L war eine Sonderklasse, die aber in diesem Winter eine außergewöhnlich gute Durchschnittsleistung erbracht hat.« »Daran kann ich mich sehr gut erinnern. Es war uns völlig unbegreiflich, was da vor sich ging, und Halldór hat weder früher noch später jemals wieder so einen Erfolg mit einer Klasse gehabt. Irgendwie fanden wir, dass es da nicht mit rechten Dingen zugehen konnte, und ich habe extra eine Prüfungskommission eingerichtet, die die Kenntnisse der Schüler überprüft hat, aber die waren ganz einfach
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