Menschensoehne
Gewissheit über seinen Verbleib erhalten. Seine Schwester, die in Neskaupstaður lebte, hatte man bislang nicht erreichen können. Über Kristján gab es keine Akte bei der Polizei. Er war neunundzwanzig Jahre alt, als er spurlos verschwand. Óttar Guðmundsson war ebenfalls verschwunden, aber nicht spurlos. Man ging davon aus, dass er im Meer ertrunken war. Seine Leiche wurde zwar nie gefunden, aber seine Kleidung und seine Schuhe lagen am Strand beim Grótta-Leuchtturm auf Seltjarnarnes. Seine Eltern und seine drei Geschwister waren noch am Leben, und sie beschrieben Óttar als einen äußerst schwierigen, haltlosen und willensschwachen Jungen, aber trotzdem hatte der mutmaßliche Selbstmord sie überrascht. Er war in psychiatrischer Behandlung gewesen. Er verschwand im Alter von neunzehn Jahren.
Ágúst Kjartansson verblutete, nachdem er sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Er wurde in seiner Wohnung aufgefunden, einem kleinen Kellerloch, das er gemietet hatte. Er wurde erst einige Wochen später aufgefunden, nachdem die Nachbarn sich beim Vermieter über den Gestank aus der Wohnung beschwert hatten. Seine Eltern lebten noch und wohnten in Reykjavík, hatten aber schon lange keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Sein Bruder hatte ihn regelmäßig besucht, und er beschrieb ihn als hoffnungsloses Drogenopfer. Ágúst hatte sich einiger kleinerer Straftaten schuldig gemacht, um zu Geld zu kommen. Er war siebenundzwanzig Jahre alt gewesen, als er starb.
»Besten Dank«, sagte Erlendur, nachdem er die Berichte gehört hatte. »Wir sehen also, dass all diese Männer vieles gemeinsam hatten, und das stützt Sigmars Aussage. Drogenmissbrauch, psychische Störungen, Straffälligkeit, Selbstmord. Ob der Grund dafür darin liegt, dass ihnen in der Volksschule etwas verabreicht wurde, ist allerdings nicht so einfach festzustellen. Ich persönlich finde diesen Teil der Geschichte reichlich abstrus. Das klingt eher nach den Wahnvorstellungen eines Rauschgiftsüchtigen, der sich im Laufe seines Lebens viel zu viel – und viel zu oft – mit Drogen zu schaffen gemacht hat. Kinder aus solchen Verhältnissen landen nicht selten ohne das Zutun anderer auf Abwegen. Allerdings lässt die Tatsache, dass Halldór, ihr Lehrer, auf eine derart grausame Weise umgebracht worden ist, darauf schließen, dass wir es mit unversöhnlichem Hass und Rachsucht zu tun haben. Es ist möglich, dass Sigmar das Feuer gelegt hat, aber irgendwie kann ich mir ihn nur schwer als Mörder vorstellen. Der Mann war ein komplettes Wrack.«
»Aber wenn all das, was er über den Verbleib seiner Freunde gesagt hat, wahr ist, weshalb sollte er uns dann Lügen auftischen, was diese Experimente in der Schule betrifft?«, fragte Elínborg. Alle, die mit den Ermittlungen befasst waren, hatten sich mit den unglaublichen und rätselhaften Aussagen von Sigmar vertraut gemacht. »Ist das wirklich so abstrus? Kann es nicht genauso gut sein, dass irgendjemand ein neues Präparat testen wollte? Hätte man das damals nicht ohne weiteres ausprobieren können, weil niemand auf so etwas achtete?«
»Dann haben wir es hier mit einem Pharmahersteller zu tun«, sagte Sigurður Óli.
»Es könnte sein«, warf Elínborg ein, »dass die Firma heute nicht mehr existiert. Wenn wir uns ernsthaft mit dem Aspekt befassen wollen, dass womöglich ein Pharmahersteller die Kinder gedopt hat, sollten wir dann nicht überprüfen, welche Firmen damals auf dem Markt waren? Und falls Sigmars Klasse wirklich für ein solches Experiment verwendet worden ist, könnte es dann nicht sein, dass auch an anderen Schulen ähnliche Versuche durchgeführt wurden?«
»Wir müssen ebenfalls in Erfahrung bringen, warum gerade Sigmars Klasse ausgewählt wurde«, sagte Erlendur. »Eine Sonderklasse mit schwierigen Schülern aus beinahe asozialen Verhältnissen, die sich urplötzlich zu Superschülern entwickeln. War es das, worauf diese Versuche abzielten, oder waren das nur die Nebenwirkungen?«
»Wissen wir schon irgendetwas über diese Krankenschwestern, die Sigmar erwähnt hat?«, fragte Elínborg.
»Ich habe überlegt, wie wir sie finden könnten«, entgegnete Sigurður Óli. »Wenn ich Sigmars Aussage richtig verstanden habe, waren sie so um die fünfunddreißig. Es wäre zu erwägen, alle Krankenschwestern ausfindig zu machen, die in den Jahren zwischen 1953 und 1963 ihre Ausbildung absolviert haben, also die Geburtsjahrgänge 1930 bis 1935. Dazu brauchen wir jede Menge Leute.«
»Kümmere dich
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