Mephisto
hatten Hendrik und Lotte mit vereinten Kräften erreicht. Ulrichs aber sagte: »Ich weiß nicht, ob ich mich darauf einlassen kann. Ich ekle mich davor, von diesen Mördern eine Gnade zu empfangen und den reuigen Sünder zu spielen – und ich ekle mich überhaupt.«
Mußte Hendrik seinem alten Freund einen Vortrag über revolutionäre Taktik halten? »Aber Otto«, rief er aus, »dein Verstand scheint gelitten zu haben! Wie willst du denn heute durchkommen, ohne List und Verstellung? Nimm dir ein Beispiel an mir!«
»Ich weiß es schon«, sagte Ulrichs, gutmütig und bekümmert. »Du bist schlauer. Aber mir fallen diese Dinge so verdammt schwer …«
Mit Emphase versetzte Hendrik: »Du wirst dich zwingen müssen. Ich habe mich auch gezwungen.« Und er belehrte den Freund darüber, wieviel Selbstüberwindung es ihn gekostet habe, so mit den Wölfen zu heulen, wie er es nun leider tue. »Aber wir müssen uns einschleichen in die Höhle des Löwen«, erklärte er. »Wenn wir draußen bleiben, können wir nur schimpfen, aber nichts erreichen. Ich bin mitten drin. Ich erreiche was.« Dies war eine Anspielung darauf, daß Hendrik die Freilassung Ulrichs' durchgesetzt hatte. »Wenn du engagiert am Staatstheater bist, kannst du deine alten Verbindungen wieder aufnehmen und politisch ganz anders arbeiten als aus irgendeinem obskuren Versteck.« Dieses Argument leuchtete Ulrichs ein. Er nickte. »Und überhaupt«, gab Hendrik noch zu bedenken, »wovon willst du leben, wenn du kein Engagement hast? Gedenkst du den ›Sturmvogel‹ wieder aufzumachen?« fragte er höhnisch. »Oder willst du verhungern?«
Sie befanden sich in Höfgens Wohnung am Reichskanzlerplatz. Hendrik hatte dem Freunde, der erst seit einigen Tagen wieder in Freiheit war, ein kleines Zimmer in der Nachbarschaft gemietet. »Es wäre unvorsichtig, dich bei mir wohnen zu lassen«, sagte er. »Das könnte uns beiden schaden.« Ulrichs war mit allem einverstanden. »Du wirst es schon so machen, wie es am richtigsten ist.«
Sein Blick war traurig und zerstreut, sein Gesicht war viel magerer geworden. Übrigens klagte er oft über Schmerzen. »Es sind die Nieren. Man hat mich eben doch arg hergenommen.« Wenn Hendrik aber dann, mit einer etwas lüsternen Neugierde, Genaueres wissen wollte, winkte Otto ab und verstummte. Er sprach nicht gerne von dem, was ihm im Konzentrationslager widerfahren war. Wenn er irgendeine Einzelheit erwähnte, schien er sich gleich zu schämen und zu bereuen, daß er sie ausgesprochen hatte. Als er mit Hendrik im Grunewald spazierenging, deutete er auf einen Baum und sagte: »So sah der Baum aus, auf den ich mal klettern mußte. Es war ziemlich schwer 'raufzukommen. Als ich oben saß, warfen sie mit Steinen nach mir. Einer hat mich an der Stirn getroffen – da ist noch die Narbe. Von oben mußte ich hundertmal rufen: Ich bin ein dreckiges Kommunistenschwein. Als ich endlich wieder 'runterklettern durfte, warteten sie schon auf mich mit den Peitschen …«
Otto Ulrichs – sei es aus Müdigkeit und Apathie, sei es, weil Hendriks Argumente ihn überzeugt hatten – ließ sich an das Staatstheater engagieren. Höfgen war sehr zufrieden. Ich habe einen Menschen gerettet, dachte er stolz. Das ist eine gute Tat. Mit solchen Betrachtungen beruhigte er sein Gewissen, das immer noch nicht völlig abgestorben war, trotz allem, was ihm zugemutet wurde. Übrigens war es nicht nur das Gewissen, welches ihm zuweilen zu schaffen machte, sondern auch ein anderes Gefühl: die Angst. Würde dieses ganze Treiben, an dem er sich jetzt so emsig beteiligte, ewig dauern? Konnte nicht ein Tag der großen Veränderung und der großen Rache kommen? Für solchen Fall war es günstig und sogar notwendig, Rückversicherungen zu haben. Die gute Tat an Ulrichs bedeutete eine besonders kostbare Rückversicherung. Hendrik freute sich ihrer.
Alles stand glänzend, Hendrik hatte Anlaß zur Zufriedenheit. Leider gab es eine Sache, die ihm Sorge machte. Er wußte nicht, wie er seine Juliette loswerden sollte.
Im Grunde wollte er sie gar nicht loswerden, und wenn es nach seinen Wünschen gegangen wäre, hätte er sie ewig behalten; denn er liebte sie noch. Vielleicht hatte er sich noch niemals so heftig nach ihr gesehnt wie eben jetzt. Er begriff, daß keine andere Frau sie ihm je würde ganz ersetzen können. Aber er wagte es nicht mehr, sie zu besuchen. Das Risiko war zu groß. Er hatte damit zu rechnen, daß Herr von Muck und der Propagandaminister ihn durch
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