Mephisto
erschreckt. Dann richtete er sich mühsam auf und schrie mit einer Stimme, die nicht mehr schnarrte, sondern greisenhaft krächzte. »Nicoletta! Komm! Ich bitte dich, komm sofort!« verlangte Theophil, zugleich jammernd und drohend. Und Nicoletta trat aus dem Hause.
In ihrem Gesichte gab es jetzt einen Zug von Müdigkeit und melancholischer Geduld, der zu der kühn gebogenen Nase, dem scharfen Mund und der gewölbten Stirne nicht passen wollte. Ihre Wangen waren breiter und weicher geworden, ihre schönen und weiten Augen hatten nicht mehr jene herausfordernde Blankheit, durch die sie früher fasziniert und beunruhigt hatten. Nicoletta schien nicht mehr das eigensinnige und hochmütige Mädchen zu sein, sondern eine Frau, die viel geliebt und gelitten hat. Sie hatte ihre Jugend geopfert –: besessen von einem Gefühl, in dem sich krampfhafte Hysterie mit einer echten Glut, einer kostbaren Ergriffenheit des Herzens verband, hatte sie ihre Jugend verschenkt an den Mann, der dort als ein Gebrochener im Sessel vor ihr lag. »Was fehlt dir, Theophil?« fragte sie. Die musterhafte Aussprache hatte sie sich bewahrt, was sonst ihr auch verlorengegangen sein mochte in all den Jahren. »Womit kann ich dir helfen, mein Lieber?«
Er aber stöhnte, wie aus schlimmen Träumen. »Nicoletta – Nicoletta, mein Kind … Es ist so grauenhaft … Es ist viel zu grauenhaft … Ich höre die Schreie derer, die man in Deutschland foltert … Ich höre sie ganz deutlich, der Wind trägt sie über das Meer … Die Folterknechte spielen Grammophon während der infernalischen Prozeduren, das ist ein gemeiner Trick, sie stopfen ihren Opfern Kissen vor den Mund, damit die Schreie erstickt werden … Aber ich höre sie doch … Ich muß alles hören. Gott hat mich gestraft, indem er mir das empfindlichste Ohr unter den Sterblichen gab … Ich bin das Weltgewissen, und ich höre alles. Nicoletta, mein Kind!« Er klammerte sich an sie. Seine gepeinigten Augen irrten über die südliche Landschaft, deren Frieden sich ihm mit schauerlichen Figuren belebte. Nicoletta legte ihm die Hand auf die heiße und nasse Stirn. »Ich weiß es, mein Theophil«, sprach sie mit der sanftesten Exaktheit. »Du hörst alles, und du durchschaust alles. Du mußt der Welt Rechenschaft geben von deinem Wissen: das würde für dich und für die Welt sehr von Vorteil sein. Du solltest schreiben, Theophil! Du mußt schreiben!«
Seit einem Jahr flehte sie ihn an, er solle arbeiten. Sie litt unter seiner Erstarrung, sie ertrug nicht seine verzweifelt grübelnde Tatenlosigkeit. Sie bewunderte ihn, sie hielt ihn für den Größten unter den Lebenden, sie wollte ihn nicht am Rande der Geschehnisse sehen, sondern in ihrem Zentrum: wirkend, eingreifend, die Welt zur Besinnung rufend, alarmierend. Aber er antwortete ihr:
»Was soll ich noch schreiben? Ich habe alles gesagt. Ich habe alles vorausgewußt. Ich habe den Schwindel entlarvt. Ich habe die Fäulnis gerochen. Wenn du ahntest, mein Kind, wie schwer erträglich es ist, so furchtbar recht zu behalten. Meine Bücher sind so vergessen, als seien sie nie geschrieben worden. Meine gesammelten Werke hat man verbrannt. Meine ungeheuren Prophetien scheinen im Wind verhallt – und doch ist alles, was heute geschieht, der ganze unsägliche Jammer, nichts als ein geringes Nachspiel, ein Satyrspiel zu meinem prophetischen Werk. In meinem Werk steht schon alles, in ihm ist alles vorweggenommen, auch das, was sich erst noch zutragen wird – das Schlimmste, die finale Katastrophe – ich habe es schon durchgelitten, ich habe es schon geformt. Was soll ich denn jetzt noch schreiben? Ich trage das Leid der Welt. In meinem Herzen spielen alle Zusammenbrüche sich ab, die gegenwärtigen wie die zukünftigen. Ich – ich – ich …« Über diesen drei Buchstaben, über diesem ›Ich‹, in dem sein halb verwirrter Geist sich verfing wie in einer Falle, verstummte er. Sein Haupt, das die furchtbaren Leiden verschönt hatten – es schien jetzt feiner, zarter und strenger gebildet; genauer durchgearbeitet als ehemals – sank ihm nach vorne. Theophil war plötzlich eingeschlafen. Nicoletta trat ins Haus zurück. Sie blieb in dem dunklen und kühlen Vorplatz stehen. Langsam hob sie die Arme und legte sich die beiden Hände vors Gesicht. Sie wollte schluchzen, aber es kamen keine Tränen; sie hatte zuviel geweint. In ihre Hände hinein flüsterte Nicoletta: »Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich muß weg von hier. Ich halte es nicht
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