Mephisto
niemals überschreiten durften. – So lebte Barbara, und vielleicht gab der Umstand, daß sie auf Nicoletta wartete, daß sie zu jeder Stunde des Tages auf Nicolettas überraschende Ankunft vorbereitet war, ihrem Leben den geheimen Sinn, das rätselhafte Zentrum, dessen es bedurfte.
Immer war Nicoletta wiedergekommen. Barbara spürte und wußte, daß sie es diesmal nicht tun würde. Dieses Mal war etwas Einschneidendes, Definitives geschehen. Nicoletta glaubte, in Theophil Marder den Mann gefunden zu haben, der ihrem Vater – oder der legendären Figur, die sie aus ihm machte – ähnlich und ihm ebenbürtig war. Nun brauchte sie Barbara nicht mehr. Dem wiedergefundenen Vater, dem neuen Geliebten vertraute sie mit dem dramatischen Eklat, der all ihre Handlungen charakterisierte, ihr Leben an. Seinem maßlosen und überreizten Willen unterwarf sich Nicoletta, die den Kopf sehr hoch trug, aber es doch liebte, sich befehlen zu lassen. Was hatte hier Barbara noch zu suchen? Viel zu stolz, um sich aufzudrängen – zu hochmütig, um auch nur zu klagen, verstummte sie und behielt sogar ihr undurchdringlich heiteres Gesicht. Arme Nicoletta, dachte sie. Nun mußt du selbst mit deinem Leben fertig werden. Es wird kein leichtes Leben sein – arme Nicoletta.
Übrigens hatte Barbara nicht viel Zeit, über ihre Freundin Nicoletta nachzudenken; ihr eigenes Dasein, der neue Alltag in der fremden Stadt und an der Seite eines fremden Mannes nahmen sie in Anspruch. Sie sollte sich an das Zusammenleben mit Hendrik Höfgen gewöhnen. Würde sie es allmählich lernen, diesen Menschen zu lieben, dessen pathetischer Werbung sie – halb aus Neugier, halb aus Mitleid – nachgegeben hatte? Ehe Barbara sich diese Frage auch nur stellte, mußte sie versuchen, eine andere – wie sie fand: entscheidende – sich zu beantworten; nämlich die: Ob Hendrik seinerseits sie noch liebe und überhaupt je geliebt habe. Barbara, skeptisch aus Klugheit und aus Erfahrenheit in vielen menschlichen Dingen, zweifelte nun daran, ob die Leidenschaft, die Hendrik ihr während der ersten Wochen ihrer Bekanntschaft gezeigt – oder vorgespielt – hatte, jemals echt gewesen war. Ich bin betrogen worden, dachte jetzt Barbara oft. Ich habe mich von einem Komödianten betrügen lassen. Es schien nützlich für seine Karriere, mich zu heiraten, und außerdem brauchte er wohl irgendeinen Menschen an seiner Seite. Aber er hat mich niemals geliebt. Wahrscheinlich kann er überhaupt nicht lieben …
Stolz, Wohlerzogenheit und Mitleid hinderten sie daran, ihre Gekränktheit auszusprechen, ihre Enttäuschung zu zeigen. Aber Hendrik war empfindlich genug, um zu spüren, was sie ihm mehr aus Hochmut denn aus Güte verbarg. Ihrer Klugheit entging, daß er litt.
Qualvoll litt er unter dem Versagen seines Gefühls vor Barbara, wie unter dem Versagen seiner Physis, das sich auf blamable und groteske Art des öfteren wiederholt hatte. Er stöhnte über seine Niederlage; denn der Aufschwung seines Gefühls, die Entflammtheit seines Herzens waren echt gewesen – oder doch beinah echt, echt bis zu dem äußersten ihm erreichbaren Grade. Stärker und reiner als in jenen Frühsommertagen nach der ›Knorke‹-Premiere werde ich niemals empfinden, dachte Hendrik. Versage ich diesmal, dann bin ich dazu verurteilt, immer zu versagen. Dann würde es feststehen, daß ich, mein Leben lang, zu Mädchen wie Juliette gehöre …
Da aber Selbstanklage – und sei sie noch so ehrlich und bitter – fast bei allen Menschen, von einem gewissen Augenblick an, sich in Selbstrechtfertigung verwandelt, ging er bald dazu über, in seinem Inneren die Argumente zu sammeln, die er gegen Barbara verwenden und mit denen er sich selbst entlasten konnte. Wenn er es recht bedachte: War es nicht Barbara, die versagte, und an deren arroganter Kühle der Elan seines Gefühls ermatten mußte? Tat sich Barbara nicht gar zuviel zugute auf ihre feine Herkunft wie auf ihren feinen Intellekt? Lagen nicht Spott, Hochmut und ein kalter Dünkel in den forschenden Blicken, die sie jetzt so oft auf ihn richtete? – Hendrik begann, diese Augen zu fürchten, die ihm, bis vor kurzem, als die schönsten erschienen waren. Noch in der gleichgültigsten und nebensächlichsten Bemerkung, die Barbara ihm gegenüber fallen ließ, vermuteten seine Gereiztheit, sein gekränkter Stolz einen Unter- und Nebensinn, der herabsetzend für ihn war. Barbaras kleine Gewohnheiten und die stille Gelassenheit, mit der sie ihnen treu
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