Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
habe versucht herauszubekommen, ob es sich bei Frau van der Neer um eine Psychose oder eine neurotische Störung handelte. Das schien mir zunächst das Wichtigste, es ist entscheidend für das weitere Vorgehen.«
»Inwiefern entscheidend?«, wollte Kommissar Bender wissen.
»Nun, der Neurotiker weiß in der Regel, dass er unter einem seelischen Problem leidet, mehr oder weniger jedenfalls. Im Unterschied dazu lebt der Psychotiker in seinem Wahngebilde wie unter einer Käseglocke, und alles, was unter dieser Käseglocke passiert, ist für ihn die einzig existierende Wirklichkeit, aus der es kein Entrinnen gibt.«
»Und welche Erkrankung vermuteten Sie bei Frau van der Neer?«
»Wie gesagt, das war mir nach diesem ersten Zusammentreffen nicht klar, und auch später kamen mir immer wieder Zweifel an der Art der psychischen Störung.« Lea überflog erneut die Eintragungen in der Patientenakte. »Jedenfalls konnte ich ihr offenbar nicht weiterhelfen, und meine Versuche, in einem Gespräch etwas über ihr Problem herauszubekommen, waren wenig erfolgreich.«
Lea erinnerte sich an das frustrierende Ende dieses ersten Gesprächs. Frau van der Neer hatte plötzlich ihren Stuhl zurückgeschoben und war mit einem Seufzer aufgestanden. »Das ist schlecht, sehr schlecht«, hatte sie gemurmelt und war ohne sich umzudrehen an diesem Morgen aus der Praxis gegangen und hatte Lea ratlos hinter ihrem Schreibtisch zurückgelassen.
Die Psychiaterin erzählte Franz Bender und Sandra Kurz von dem plötzlichen Ende dieser denkwürdigen Konsultation, das umso erstaunlicher war, da Frau van der Neer verzweifelt auf dieses Gespräch bestanden hatte. Anschließend blickte Lea auf die anderen Eintragungen und auf das jeweils vermerkte Datum. »Frau van der Neer war danach noch insgesamt viermal in der Praxis. Diese Besuche unterschieden sich freilich sehr von unserem ersten Zusammentreffen.«
»Inwiefern?«, wollte Frau Kurz wissen.
»Frau van der Neer wirkte bei den folgenden Besuchen gefasster, vielleicht etwas bedrückt, aber keineswegs so aufgewühlt und verzweifelt wie bei diesem ersten Gespräch.« Lea drehte die letzte Karteikarte um und schaute auf die Notizen. »Am 24. September, das war der letzte Termin, zu dem sie erschien, sprach sie wieder vom Tod, vom Teufel und von einem Labyrinth. Sie erwähnte aber auch, dass es Hoffnung für sie gebe. Das war vor drei Wochen.« Lea behielt die Karteikarten in der Hand und lehnte sich zurück.
Frau Kurz stellte die nächste Frage: »Insgesamt nur vier Termine bei Ihnen? Das ist wenig für Patienten in Ihrem Fach, nehme ich an. Patienten mit psychischen Erkrankungen gehen meines Wissens viel häufiger zu ihrem Psychiater, oder?«
»Ja, allerdings«, bestätigte Lea, »die meisten Patienten benötigen viel Zeit, und wir haben in der Regel Probleme, ausreichend Termine zu reservieren.«
Als habe sie das Stichwort für ihren Einsatz bekommen, öffnete Frau Witt mit einem entschuldigenden Blick die Tür. »Verzeihung, aber das Wartezimmer ist ziemlich voll. Frau Ehlers wäre als Nächste an der Reihe, was soll ich ihr sagen?« Frau Witt blieb in der Tür stehen. »Soll ich sie eine Runde zum Einkaufen schicken?«
Die Einkaufsmöglichkeiten waren ein unschlagbarer Vorteil der ausgezeichneten Praxislage. Die meisten Patienten kamen so mit längeren Wartezeiten sehr gut zurecht.
»Nein, sie kommt sofort dran«, erwiderte Lea. »Ich muss heute auf jeden Fall pünktlich los, da Frederike heute Nachmittag bei einer Schulaufführung mitspielt. Die darf ich keinesfalls verpassen.«
Frau Witt nickte, verließ den Raum und schloss die Tür.
»Eine Frage noch, bevor wir uns verabschieden.« Kommissar Bender und Frau Kurz hatten den Hinweis verstanden. »Hat Frau van der Neer zu irgendeinem Zeitpunkt Selbstmordgedanken geäußert oder angedeutet?«
»Nein, sie hat nichts Eindeutiges offenbart. Weder beim ersten Gespräch noch später.« Lea warf sicherheitshalber nochmals einen Blick auf die Unterlagen und schüttelte den Kopf. Sie hatte es sich schon zu Beginn ihrer Berufstätigkeit angewöhnt, wichtige Dinge mit Textmarker, die sie in allen Farben immer griffbereit hatte, zu kennzeichnen. Suizidgedanken oder ein versuchter Selbstmord gehörten in jedem Fall dazu. »Auch wenn Frau van der Neer in den weiteren Gesprächen relativ, die Betonung liegt hier wirklich auf relativ, ausgeglichen erschien, haben wir über einiges gesprochen, was mich ihren Gemütszustand ahnen ließ. Sie war für
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