Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
mich …«, Lea suchte nach einem passenden Wort, »… zerrissen. Das trifft es vielleicht. Sie war innerlich zerrissen. Von konkreten Selbstmordabsichten sprach sie aber, wie gesagt, nicht.« Lea konnte den Blick auf ihre Armbanduhr nicht mehr hinausschieben. »Es tut mir wirklich leid, ich stehe heute unter Zeitdruck. Aber ich werde mir die Eintragungen noch einmal in Ruhe durchsehen, und wir können dann gerne noch über Frau van der Neer sprechen. Wäre das in Ordnung?« Lea schaute fragend in das Gesicht Franz Benders.
Dieser nickte. »Ja sicher, das wäre hilfreich, vielen Dank.«
Er und Sandra Kurz erhoben sich nahezu gleichzeitig, und nach einem kurzen Händedruck wandten sich beide in Richtung Tür. Bender legte noch schnell seine Visitenkarte auf Leas Schreibtisch. »Sie können mich jederzeit anrufen. Zu Beginn der Ermittlungen ist jede Information nützlich und wichtig.«
Als er an der Tür stand, drehte er sich noch mal um. Eine Geste, die Lea an den Detektiv einer amerikanischen Fernsehserie erinnerte. »Das sollten Sie vielleicht noch wissen: Falls es ein Selbstmord gewesen sein sollte, gibt es einige Auffälligkeiten. Wir fanden Frau van der Neer halb angezogen auf einem Sessel sitzend, die Hose war nicht zugeknöpft und die Knöpfe der Bluse nicht geschlossen. Auf einem Tisch stand eine Teetasse, daneben lag ein weißes Taschentuch. Im Badezimmer der Toten lag eine Zahnbürste mit Zahnpasta auf dem Waschbeckenrand, und die Teekanne war noch halb gefüllt.«
Lea stellte sich Frau van der Neer in ihrer Wohnung vor, wie sie dort die Teekanne gefüllt und die Zahnpasta aus der Tube gedrückt hatte. Alltägliche Verrichtungen, über die man sich keine Gedanken machte.
Kommissar Bender fuhr fort: »Die Wohnung war einigermaßen ordentlich, nichts war zerwühlt, und es gab keine aufgezogenen Schubladen. Nur der Spiegel im Schlafzimmer war zersplittert, vermutlich von einem schweren silbernen Medaillon, das jemand dagegengeworfen hatte. Das Medaillon lag unter dem Spiegel. Vielleicht ist es ein Hinweis darauf, dass doch eine Auseinandersetzung vor dem Tod stattgefunden hat. Wir werden abwarten müssen, bis die Spurensicherung uns nähere Informationen liefert.« Er machte eine Denkpause. »Aber nichtsdestotrotz, so wie es aussieht, ist Frau van der Neer zwischen Anziehen und Zähneputzen gestorben.«
Mit diesem Satz beendete Kommissar Bender seine Rede, hob die Hand zum Abschied und verließ mit Frau Kurz das Sprechzimmer.
Die Tür blieb geöffnet, und so konnte Frau Ehlers sofort eintreten und Platz nehmen. »Das hat heute aber lange gedauert, Frau Doktor, ich habe fast eine dreiviertel Stunde gewartet.«
»Es tut mir wirklich leid, Frau Ehlers«, besänftigte Lea die Patientin. »Wie kommen Sie mit dem neuen Medikament zurecht?«
»Also«, begann diese und schilderte in aller Ausführlichkeit ihre Beschwerden – die Verspannungen, den Kopfschmerz, die Abgeschlagenheit, das Leeregefühl, das sie immer wieder überfiel. Lea hatte ihr vor drei Wochen nach Ausschluss einer körperlichen Ursache ein Antidepressivum verschrieben und konnte eine deutliche Besserung konstatieren. Die Patientin wirkte frischer, sie erzählte lebhafter und schien nicht mehr so niedergeschlagen.
»Ich denke, das Medikament tut Ihnen sehr gut.« Fragend schaute Lea Frau Ehlers an und wartete gespannt auf deren subjektive Einschätzung.
»Ja schon, ich habe morgens mehr Schwung, wenn ich das mal so sagen darf«, bestätigte die füllige Mittfünfzigerin etwas zögerlich. »Aber nachmittags wird mir alles schon wieder zu viel. Es ist zwar kein Loch mehr, in dem ich versinke, aber immerhin noch eine Kuhle.«
»Das haben Sie treffend formuliert. Dann schlage ich vor, dass wir die Dosis noch etwas anheben, dann kommen Sie wahrscheinlich auch noch gut über den Nachmittag.«
Die Patientin nickte. Lea stellte ihr ein neues Rezept aus und vermerkte die Einnahmehäufigkeit.
»Geht es Ihrem Mann wieder besser?«
Herr Ehlers hatte sich bei einem Sturz von der Kellertreppe den rechten Oberschenkel gebrochen. Nach der Operation hatte er für acht Wochen ein Rehabilitationszentrum besuchen müssen. Die Depression seiner Ehefrau war durch das plötzliche Alleinsein sicher erheblich verstärkt worden, zumal sie fast dreißig Jahre verheiratet und, soweit Lea das mitbekommen hatte, noch niemals getrennt gewesen waren. Nun endlich lächelte Frau Ehlers.
»Ja, viel besser, er kommt nächste Woche wieder nach Hause. Bis dahin muss
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