Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
»Aber dennoch wirkte es nicht psychotisch; es hat etwas gefehlt.«
»Und die anderen Gespräche? In welcher Verfassung befand sie sich?«, erkundigte sich Ullrich.
»Ausgeglichener, keine Rede mehr von Schuld oder Teufel. Nur bei dem letzten Besuch, etwa drei Wochen vor ihrem Tod, hat sie wieder von einem Labyrinth, vom Tod, aber auch von Hoffnung gesprochen.« Lea wiederholte die Zusammenfassung ihrer Notizen, die sie bereits den beiden Kriminalbeamten mitgeteilt hatte.
»Spricht doch für eine phasisch verlaufende Psychose; wieso bist du so unsicher?«
»Eher so ein Bauchgefühl.«
»Was hatte sie denn sonst noch für Schwierigkeiten?«
»Sie litt unter chronischen Schlafstörungen und Albträumen. Sie bat mich um die Verschreibung eines Schlafmittels. Aber: religiöser Wahn war das Stichwort.«
»Also gut, an einen eindeutigen Fall mit einem religiösen Wahngebilde kann ich mich bestens erinnern, es war in der Tat eindrucksvoll. Auf der psychiatrischen Station des Universitätsklinikums in Heidelberg befand sich während meiner Assistentenzeit ein junger Patient mit einem klassischen Sendungswahn. Er behauptete, ein direkter Nachfolger von Paulus zu sein und habe den Auftrag, die Menschen an Gottes Gebote zu erinnern. Aber, und da lag für ihn das Problem, er wurde von Luzifer bedrängt, der ihn verführen und von seiner Bestimmung abhalten wollte.«
»Luzifer, der verstoßene Engel?«
Lea erinnerte sich an den Kindergottesdienst vor gefühlt einem halben Jahrhundert und wusste noch genau, dass die Vorstellung, vom Himmel hinuntergestürzt zu werden, sie geängstigt hatte. Diesem Luzifer, was auch immer man ihm vorwarf, hatte ihr heimliches Mitgefühl gegolten.
»Genau dieser Luzifer. Und darin bestand auch das Problem des jungen Mannes, Paul hieß er. Er hörte also die Stimme Luzifers und hatte keine Chance, ihr zu entkommen. Das brachte ihn immer wieder in extreme Erregungszustände. Er schrie und warf mit allem, was ihm in die Hände fiel. Eines Tages tobte er wieder, griff sich einen Stuhl und schleuderte ihn gegen eine Schwesternschülerin. Sie wurde von der Stuhllehne am Kopf getroffen, die große Platzwunde musste in der Chirurgie versorgt werden.
Nun also, besagter Patient lief auf der geschlossenen Station mit einem Kissen auf dem Kopf herum, festgebunden wie ein Kopftuch, damit ihn die Stimme Luzifers nicht erreichen konnte. Aber wie du dir vorstellen kannst, nützte das wenig …«
»Frau Doktor, Entschuldigung, aber die Schule von Frederike – das Sekretariat ist am Telefon.« Frau Witt schaute besorgt auf Ullrich, der gemütlich auf seinem Stuhl saß. »Herr Doktor, bitte, wir kommen sonst heute Morgen nicht durch.«
»Moment, bin gleich wieder da«, sagte Lea beim Aufstehen zu Ullrich und lief zur Anmeldung.
»Mama, haben wir einen Hexenbesen im Keller?«
Gott sei Dank, kein tödlicher Unfall, dachte Lea erleichtert und atmete tief durch. Die Kinderstimme am anderen Ende der Leitung klang völlig normal. Manchmal machte Lea sich darüber Gedanken, ob das Ausmaß ihrer mütterlichen Ängste bereits zu einer manifesten geistigen Störung gezählt werden musste, oder ob es gerade noch als ausgeprägte mütterliche Fürsorge durchgehen würde. In dem Augenblick, in dem eine offizielle Stelle, früher Kindergarten, heute Schule, anrief, sah Lea vor ihrem geistigen Auge Katastrophen ablaufen. Ein verheerender Brand, bei dem die Sprinkleranlage nicht in Gang gekommen war, mit unzähligen verunstalteten Opfern, ein Sturz durch die Glastür, die nur angeblich mit Sicherheitsglas ausgestattet gewesen war, oder andere Szenen, die einem Horrorfilm zur Ehre gereicht hätten.
»Einen Hexenbesen brauchst du?«, fragte sie überflüssigerweise noch einmal nach.
»Ja, Mama, du weißt doch: für die Aufführung heute. Ich bin die Ersatzhexe und brauche dringend noch einen Besen, falls die Hauptrollenhexe krank wird, und sie hat ihren Besen nicht in der Schule gelassen.«
Bei solch komplizierten Sachverhalten hatte Lea es sich angewöhnt, erst einmal Ja zu sagen, um durch weitere Fragen nicht in einen noch größeren Wirrwarr hineingezogen zu werden.
»Glaubst du, wir haben einen? Jetzt sag mal endlich!«, drängte Frederike auf eine Antwort.
»Ja, bestimmt. Sobald ich zu Hause bin, gehen wir in den Keller. Okay, Kleines? Bis später.«
Der große Gerümpelkeller, der mit einem kleinen Trampelpfad in der Mitte versehen war, barg viele Schätze, warum also nicht auch einen Hexenbesen.
Lea ging
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