Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
dem Fegefeuer zu schmoren, schon vor Hunderten von Jahren zu massiven Panikstörungen geführt hat.«
»Nun, die Kirche lebte nicht schlecht von dieser Furcht«, ging Lea auf Ullrichs Thema ein. »Immerhin wurde mit den Ablassgeldern ein großer Teil des Petersdoms finanziert.«
Unbeeindruckt von Leas Beitrag setzte Ullrich zu einem kurzen Philosophievortrag an. »Bei den Epikureern wurde die Erkenntnis der Vergänglichkeit positiv umgesetzt. ›Memento mori‹ bedeutete so viel wie ›genieße das Leben, solange es dir gegeben ist‹.«
»Gefällt mir wesentlich besser«, kommentierte Lea diese Interpretation und musste an Frau van der Neer denken.
Unbeirrt fuhr Ullrich fort. »Zudem gibt es von Epikur für die von Todesängsten geplagten Menschen die Erkenntnis, dass der Tod uns eigentlich nicht betrifft.«
»Noch eine gute Nachricht?«
»Lea bitte, das Thema ist ernst!«
Lea presste demonstrativ die Lippen aufeinander. »Na gut, ich höre zu.«
»Also, Epikur sagt, solange wir sind, ist der Tod nicht, und wenn der Tod ist, sind wir nicht.«
»Bestechendes Argument. Wann hat Epikur gelebt?«
»So ungefähr 350 vor Christus«, antwortete Ullrich ohne Zögern. »Übrigens, die Christen mochten diese Philosophierichtung gar nicht, und im Mittelalter galt Epikur sogar als Antichrist, als der Mitstreiter des Teufels sozusagen.«
»Klar, Menschen ohne Angst sind schwer zu bändigen.« Lea goss sich Kaffee Nummer vier ein und rührte mit einem Löffel die Milch um. »Ich wollte dich noch etwas fragen.«
»Ja?« Ullrich beendete sein Teeritual. Er stellte das Teesieb in den Abfluss, spülte die Kanne aus und stellte die Dose Earl Grey aufs Regal zurück. Lea beobachtete seine Bewegungen. Ja wirklich, Ullrich war der zufriedenste Mensch, den sie kannte. Und furchtlos war er noch dazu. Vor einigen Monaten hatte ein Patient, mit paranoid-halluzinatorischen Symptomen, landläufig als Verfolgungswahn bekannt, urplötzlich ihre Arzthelferin Nora angegriffen. Ohne erkennbaren Grund war er blitzartig vom Stuhl aufgesprungen, hatte sie mit einer Hand am Hals gepackt, an die Wand gedrängt und mit der anderen Hand eine gefüllte Wasserflasche ergriffen, die immer neben der Anmeldung stand. »Du willst es mir nicht geben, du Miststück, sag es doch, du lachst nur hinter meinem Rücken, du hältst mich für blöde! Ihr haltet zusammen, ihr mieses Pack!« Wie erstarrt hatte Nora dagestanden, die Verzweiflung stand ihr in den Augen. Frau Witt, die aus Ullrichs Sprechzimmer kam, hatte die Situation sofort richtig erkannt und Ullrich durch die geöffnete Sprechzimmertür ein stummes, aber wohl eindeutiges Zeichen gegeben. Mit einer Behändigkeit, die ihm bei seinem Körperumfang niemand zugetraut hätte, stand er nach zwei großen Schritten vor dem hochgradig erregten, nicht gerade schwächlichen Mann. »Was soll das? Was bilden Sie sich ein?« Mit sicherem Griff hatte er sich der Wasserflasche bemächtigt, den Mann zurückgestoßen, so dass dieser zielgenau auf einem Stuhl gelandet war, und Nora hinter seinen Rücken positioniert. Absolute Stille hatte in dem Raum geherrscht, der sonst mit Gesprächen, Telefonklingeln und Geräuschen von Menschen in Bewegung angefüllt war. Ullrich hatte ruhig seine Krawatte zurechtgerückt, zum Telefon gegriffen und die Polizei angerufen.
Natürlich kam es hin und wieder zu solchen Konfrontationen mit psychotischen Patienten, und Lea hasste diese Situationen. Anlass für den Wutausbruch des Patienten war ein Rezept gewesen, das noch nicht ausgestellt worden war, eine Banalität.
»Lea! Du wolltest mich etwas fragen!« Ullrichs Stimme hatte den Effekt eines Weckrufes und Lea zuckte zusammen. So tief war sie in Gedanken versunken.
»Ja, … sicher.« Sie brauchte einen kurzen Moment, um sich zu konzentrieren. »Hast du schon mal einen echten religiösen Wahn bei einem Patienten erlebt?«
Die Tür ging auf, Frau Witt steckte ihren Kopf in den Raum und zeigte an, dass es Zeit für den nächsten Patienten war. Ullrich nickte ihr zu, ging aber trotzdem seelenruhig auf Leas Frage ein. »Religiöser Wahn? Geht es darum bei dieser Frau van der Neer?«
»Vielleicht. Wirklich ein verwirrender Fall. Schuld oder Schuldgefühle spielen sicher eine Rolle, aber sie wirkte außerdem versessen darauf, eine Zahl oder irgendeinen Weg von mir zu erfahren, wie in einem psychotischen Wahngebilde.« Lea rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her, als müsse sie wenigstens die richtige Sitzposition finden.
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