Mercy, Band 2: Erweckt
nicht vor. Sie haben dich verdorben, zu etwas Geringerem gemacht, als du warst. Aber jetzt musst du versuchen, dich an etwas zu erinnern. Schaffst du das?“
Er schlingt seine Arme fester um mich, und es ist, als berührte ich die Ewigkeit, die absolute Macht. Doch was in Lucs Herz wirklich vorgeht, bleibt mir verborgen, so war es immer. Er ist schön, ja. Teurer als mein Leben ist er mir, gewiss. Und doch war er schon immer unergründlich. Ein Mysterium.
Luc legt einen Finger an meine Lippen, bevor ich etwas sagen kann.
„Das letzte Mal hatte ich dich fast eingeholt, wusstest du das? Als du Carmen Zappacosta warst.“
Während er diesen Namen ausspricht, flammt die grenzenlose Leere um uns herum sekundenlang auf, greller als brennendes Magnesium, greller als ein Blitz, der in die Erde einschlägt, und ich zucke zusammen.
Erneut umgibt uns Dunkelheit und Luc flüstert: „Ich war dir so nahe, dass ich dich durch die Haut des Mädchens beinahe berühren konnte. Beinahe waren wir zusammen. Am selben Ort. Nach all dieser Zeit.“
Ich zittere bei dem Gedanken.
„Ich erinnere mich nicht, dass ic h … sie wa r …“, wispere ich und vermeide den Namen des Mädchens, aus Angst, dass die Flammen um uns herum wieder auflodern.
„Weil sie nicht wollen, dass du dich erinnerst“, erwidert Luc und hält mich noch fester in seinen Armen. „Deshalb bin ich hier. Bevor sie dich aus ihrem Körper fortrissen, habe ich einen Weg entdeckt, wie wir wieder zusammen sein können. Der junge Sterbliche hat mich darauf gebrach t – die Art, wie er Carmen anschaute. In seinen Augen lag Liebe, Liebe zu dir. Er kennt dich und liebt dich um deinetwillen und das können wir ausnutzen. Endlich habe ich eine Möglichkeit gefunden, dich zu befreien, wieder mit dir zusammen zu sein.“
Ich sehe Luc verwirrt an. Von wem spricht er? Jemand lieb t … mich?
„Behalte, was ich dir jetzt sage“, drängt Luc. „Nur diesen einen Gedanken. Wenn du erwachst, suche Ryan Daley und kehre nach Paradise zurück, an seinen Heimatort, und dort wartest du auf mich. Schaffst du das?“
„Ryan Daley?“, wiederhole ich und atme auf, als bei der Nennung seines Namens keine Flammen aus dem Himmel schlagen.
Luc nickt. „Mag sein, dass sie mich von dir fernhalten können, aber du bist stark und erfinderisc h – sonst hättest du nicht so lange durchgehalten, ohne den Verstand zu verlieren. Suche diesen Sterblichen, fliehe vor den Acht und kehre an den gottverlassenen Ort zurück, den er Zuhause nennt. Dort werden wir endlich vereint sein. Und wenn du erst wieder unter meinem Schutz stehst, werden die Acht dich nie mehr anrühren.“
Ich blicke in Lucs Gesicht, betrachte sein makelloses Profil. Warum drängt er mich, diesen Sterblichen zu finden, an den ich mich nicht mal erinnere?
„Von wem sprichst du?“, frage ich. „Und woran erkenne ich ihn?“
Sekundenlang flackert etwas in Lucs hellen Augen auf. Er sieht mich an und seine Finger krümmen sich wie Klauen um meine Taille. Fast fürchte ich mich. Wenn er so aussieht, ist er zu allem fähi g …
Dann lacht er und diesmal klingt es ehrlich belustigt. „Von wem ich spreche? Das musst du selbst herausfinden. Du bist ein kluges Mädchen, du schaffst das schon. Und was sein Aussehen angeht, nu n …“
Luc wirbelt von mir weg, in die luftlose Leere hinauf, kreist mit ausgebreiteten Armen, bis er nur noch ein leuchtender Fleck ist, ein winziges Lichtfünkchen, das plötzlich erlischt. Stattdessen steht sein menschlicher Doppelgänger vor mir, ein Junge in einer abgewetzten Lederjacke, verwaschenem blauen T-Shirt und abgestoßenen Stiefeln. Er sieht Luc überraschend ähnlich: groß, schlank, schön, stark. Nur ist er dunkelhaarig, dunkeläugig, hellhäuti g – ein Gegensatz wie Nacht und Tag. Und er ist sterblich.
Er wirkt verletzlich, das war Luc nie und wird es auch nie sein. Und jetzt sehe ich sie, die Liebe in seinen Augen. Liebe zu mir.
Ich schwebe ihr entgegen, dieser großen, schmerzlich vertrauten Gestalt. Wie konnte ich ihn vergessen, einen so hinreißend schönen Jungen, der mich anbetet, obwohl er mic h – mein wahres Ic h – nie wirklich erblickt hat?
Jetzt kommt auch Ryan näher und unsere Fingerspitzen berühren sich.
Plötzlich löst sich etwas in mir. Verschüttete Erinnerungen drängen an die Oberfläche, als geriete der Boden unter meinen Füßen ins Wanken.
Nur ist hier ja kein Boden, kein Oben und kein Unten. Und kein Licht, außer der Helligkeit meiner Haut, dem
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