Mercy, Band 2: Erweckt
seine blonden Dreadlocks sind zu einem dicken Pferdeschwanz gebunden. Er trägt ein verwaschenes Band-T-Shirt, Bermudashorts und eine fleckige Kuriertasche über der Schulter, deren Reflektorstreifen trüb im Tageslicht schimmern. Er stützt eine Hand auf sein Skateboard und taxiert mich ungeniert. Dann erkennt er mich offenbar und blickt sofort weg. Na kla r – er kennt Lela vom Sehen, das verrät mir sein betretenes Gesicht. Ich schätze, er wohnt in der Nähe und Lela läuft ihm öfter über den Weg.
Wahrscheinlich bewege ich mich irgendwie anders als sonst. Und bin auch anders gekleidet. Mein Outfit knallt: quietschgrünes Tanktop, auf dem vorne „Scarlet“ in Glitzerbuchstaben steht, ein bunter Rock mit riesigen roten Blüten, dazu flache rote Schuhe. Es war das Einzige, was ich auf die Schnelle in Lelas chaotischem Zimmer zusammensuchen konnte. Ihr Kleiderschrank quillt buchstäblich über, aber das meiste war für heute zu warm. Lela hat offenbar die ganze Nacht in dem Sessel am Bett ihrer Mutter verbracht, statt in ihrem Schlafzimmer. Auf ihrem vollgemüllten Schreibtisch lag ein mumifizierter Apfelbutzen, der mindestens einen Monat alt war, so wie er aussah.
Ich hole tief Luft und hebe den Kopf, genieße die Sonne in meinem Gesicht. Das Licht hier ist einzigartig, irgendwie härter, aber auch klarer, leuchtender als anderswo. In der Luft hängt der Geruch nach verbrannter Butter, ein Geruch, der hinten in der Kehle brennt, in der Lunge. Ein heißer Tag kündigt sich an. Glutheiß sogar. Der Himmel wölbt sich weit, endlos, wolkenlos. Merkwürdig, dass ich hier mitten im Sommer gelandet bin. Dabei war doch Winter, dort, wo ic h … vorher war.
Mein Augenlid zuckt heftig, während ich mir den Kopf darüber zerbreche, woher dieser Gedanke kommt. Aber es hilft nichts, mein Gedächtnis ist wie Watte, mein Geist gleicht einer stumpfen Messerklinge.
Merkwürdig, wie leicht ich mich in Lelas Leben bewege, obwohl ich erst vor einer Stunde in ihr erwacht bin. Das ist neu. Ich habe kein Herzrasen, keine Schmerzen oder Halluzinationen, ich höre keine Stimmen, stolpere nicht über eingebildete Hindernisse, weil mir Arme und Beine nicht gehorchen. So war es bisher immer, wenn ich in einem fremden Körper „erwacht“ bin. Körperlich bin ich diesmal absolut fit, vielleicht gewöhne ich mich allmählich daran. Lela und ich funktionieren reibungslos, wie ein einziger Organismus, und ich wei ß – keine Ahnung wohe r –, dass es noch nie s o … einfach war. Sofern man überhaupt von „einfach“ sprechen kann, wenn man in einem Körper leben muss, der einem nicht gehört.
Souljackin g – „Seelenraub“ ist meine Bezeichnung für diese Situation, die ich nun schon unzählige Male erlebt habe. Ich habe so viele fremde Körper bewohnt („besessen“ klingt mir zu brutal), dass ich mich längst nicht mehr an alle erinnern kann. Das zumindest weiß ich, auch wenn mein Gehirn sämtliche Einzelheiten gelöscht hat, oder vielleicht wurde es auch entsprechend programmiert. Wohin die Seelen gehen, die ich vorübergehend aus ihrem Körper verdränge, ist ein Rätsel, an dessen Lösung ich noch arbeite.
Keine Ahnung, womit ich das alles verdient habe. Wofür ich büße, immer wieder büße. Die bittere Wahrheit ist, dass ich nicht mehr über mich weiß als das, was ich bisher erzählt habe. Ich bin wie ein Körperfresser, ein böser Geist, ein Ghul, der sich das Fleisch einer Fremden überstülpt. Ich darf nicht allzu oft darüber nachdenken, sonst graut mir vor mir selbst.
Und da behaupten manche Leute, dass es nichts Neues unter der Sonne gäbe. Wenn die wüssten!
Angestrengt starre ich in diesen ausgebleichten, blendenden Himmel, und mir wird klar: Ich bin in einem anderen Land.
Aber wo?
Am anderen Ende der Welt, triumphiert mein innerer Dämon, der meinem wachen Selbst immer um einen Sekundenbruchteil voraus ist.
Wie zur Bestätigung ertönt in diesem Moment jubelnder Vogelgesang von den Stromleitungen über mir, ein Gesang, so lang und betörend, wie ihn keine Menschenkehle jemals hervorbringen könnte. Etwas so Schönes habe ich noch nie gehört, und dennoch ist es für mich sofort unauflöslich mit diesem Himmel verbunden, mit diesen fremdartigen, ausladenden Bäumen, deren Blätter angenehm duften, mit dieser Straßenzeile aus Bungalows in gedeckten Pastellfarben, den Maschendrahtzäunen und handtuchgroßen Vorgärten. Eine Straße mit lebenden Relikten aus dem vorigen Jahrhundert. Ich mustere den
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