Mercy, Band 2: Erweckt
und hackt weiter.
„Wer ist als Nächster dran?“, sage ich kühl in mindestens zehn genervte Gesichter, darunter auch das des wütenden Büro-Zwergs, während das Barmädchen den Kopf schüttelt und weiter Espresso-Shots ausgibt.
Mit meinen übermenschlich scharfen Augen und Ohren und meinem phänomenalen Wortgedächtnis fällt es mir nicht schwer, die Gäste zu täuschen. Die meisten werden wahrscheinlich nicht merken, dass sie nur ein grobes Imitat der echten Lela vor sich haben, die sie sonst immer bedient.
Kapitel 4
Erst ab halb elf wird es ruhiger. Ich habe die Zeit im Blick, weil mich der Laden so anödet, dass ich ständig auf die Uhr seh e – die Gerüche, der Lärm, die ungenierte Dreistigkeit der Leute, die ein- und ausgehen. Auf jeden Fall spüre ich ein Zucken in Lelas linker Hand, das vorher nicht da war. Falls ich hier meine Zeit absitzen muss, um mich besser in dieses Mädchen und sein elendes Schicksal hineinversetzen zu könne n – he, die Rechnung geht voll auf. Ich hasse Lelas Leben schon jetzt genauso abgrundtief wie sie selbst es tut.
„Nette Leute kommen nicht hierher, die suchen sich was anderes“, sagt das Barmädchen schulterzuckend, als es endlich einen Augenblick Zeit findet, um die Kaffeemaschine abzuwischen. „Hier findest du alles, nur nicht die nette Sorte.“
„Halt mich jetzt nicht für bescheuert“, fange ich vorsichtig an, „aber kannst du mir sagen, wer der Mann dort hinten ist?“ Ich zeige auf den stummen, finster blickenden Riesen, der in der Küche steht und sich über die Essensvorbereitungen beugt. „Und wer ist die Frau, die in die ‚Ziggi-Pause‘ gegangen is t – vor, hm, über zwei Stunden?“
Das Mädchen schnalzt mit der Zunge. „Du machst Witze, ja? Oder kannst du dich wirklich nicht erinnern? Du bist doch schon seit vier Monaten hier. Willst du mic h … wie sagt man: auf den Arm nehmen?“
Ich schüttle den Kopf, sehe sie erwartungsvoll an, und schließlich fährt sie fort: „Er heißt Sulaiman, ist Nordafrikaner, hat letzten Monat hier angefangen. Netter Mann, sehr still, betet gern. Und die Teufelsfrau, das ist Reggie. Alter Koch hat aufgehört. Reggie hat ihn vergrault, sagt er. Ich bin Cecilia und ich komme aus Cebu.“
Cecilia merkt anscheinend, wie es in meinen Gehirnwindungen arbeitet, und zeigt Mitleid: „Das ist auf den Philippinen.“
„Ach so, ja“, sage ich, schockiert über das gähnende Loch in meinem Gedächtnis. Ich probiere den Namen Carmen Zappacosta aus, spüre ihm nach, und eine Welle von Angst steigt in mir auf. Es ist, als wäre diese frühere Identität durch einen Starkstromzaun von mir abgeschottet, wie in einem Feuerring in meinem Geist eingeschlossen. Und ich weiß, dass das alles irgendwie mit meinem Traum zusammenhängt. Weiß es hundertprozentig, wenn auch nicht woher. Mit dem Traum, der so lebendig und schön war, aus dem ich nicht erwachen wollte und an den ich mich jetzt nicht mehr erinnern kann.
Cecilia interpretiert meinen Gesichtsausdruck falsch und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du magst mich, aber nicht die da, die Teufelsfrau. Sulaiman ist okay. Hast du jedenfalls früher gesagt.“
Ich lächle sie an, entschuldigend, wie ich hoffe. „Das sind die Medikamente“, erkläre ich.
Cecilia schüttelt den Kopf. „Kommt von dem abartigen Scheiß, den du an der Uni lernst. Ist schlecht fürs Gehirn.“ Dann geht sie wieder an die Arbeit und bringt ihr kleines Kaffee-Universum notdürftig in Ordnung, bevor der nächste Ansturm von Koffeinjunkies über uns hereinbricht: Tassen hier hinüber, Löffel dorthin, Zucker, Kakaostreuer, neue Flasche Sojamilch, neue Flasche fettarme Milch, neue Flasche normale Milch, Geschirrtücher, falls etwas verschüttet wird.
Ich lache über die Entrüstung in ihrer Stimme. „Ja, da hast du wahrscheinlich Recht. Ähm, die Frau, die vorher mit mir reingekommen ist, diese Justine“, bohre ich weiter. „Kenne ich die auch?“
Cecilia bleibt eine Weile stumm und heftet ihre ernsten, seelenvollen Augen auf mich. „Du machst Witze“, sagt sie. „Arbeitet in der Showgirls Lounge, Justine. Ist eine von de n – wie heißt das ? – Exotik-Tänzerinnen.“
Als ich verwirrt mein Gesicht verziehe, schnalzt Cecilia ungeduldig mit der Zunge. „Du weißt schon, tanzt vor Männern für Geld. Im Club. Frag mich nicht, was sie da sonst noch macht.“
Das erklärt einiges. Zum Beispiel, warum Justine in ihrer Freizeit in diesen hässlichen, formlosen Klamotten
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