Mercy, Band 4: Befreit
uns führen die zahllosen Stufen der Wendeltreppe ins Dunkel, Stufen, die im Lauf der Jahrhunderte von unzähligen Menschenfüßen ausgetreten wurden.
Kein Arzt der Welt, kein Krankenhaus kann Ryan jetzt noch retten. Mir allein fällt es zu, meinen Liebsten zurückzuholen und zu heilen. Ich stähle mich für meine Aufgabe, die immer auch dem Unerwünschten Tür und Tor öffnet. Dann lege ich meine brennende Hand auf seinen leblosen Körper, in seine kalte Halsmulde, in der kein Puls mehr pocht. In Sekundenschnelle löse ich mich auf, werde zu einem Quecksilberregen, nein, einem Feuerregen, und lasse mich von der Strömung tragen, wohin sie will.
Ich bin jetzt Licht, reine Energie. Erinnerungen an Ryans Leben überfluten mich – an seine untadelige Kleinstadt-Existenz, in die ein Monster eingedrungen ist, das ihm die Schwester genommen und alles schlagartig verändert hat. Ich spüre sein Entsetzen, seine Wut und Hilflosigkeit, als durchlebte ich selbst noch einmal Sekunde für Sekunde die schreckliche Zeit, die seine Schwester Lauren in dem dunklen Verlies verbrachte. Ich erlebe ihre Kämpfe, ihre Niederlagen, die Hoffnungslosigkeit, die wachsende Dunkelheit in ihr. Jetzt, in diesem Moment, kenne ich Ryan besser als er sich selbst. Ich sehe, dass er jederzeit sein Leben für seine Schwester opfern würde, genau wie für jeden anderen, den er liebt. Ryan ist nicht vollkommen, aber er ist ein guter Mensch, der am Ende ins Licht gehen wird. Er ist eine Seele, wie Azrael sie für die andere Welt begehrt.
Und schließlich erlebe ich mich selbst, wie Ryan mich gesehen hat – als Carmen, als Lela, als Irina – und ich spüre, wie er sich immer mehr in mich verliebte, immer leidenschaftlicher – Leben um Leben, Begegnung für Begegnung.
Ich erlebe den Schock, den Carmen ihm versetzte, als sie im Krankenhaus zu sich kam und ihn nicht mehr erkannte, und seinen wilden Schmerz, als Lela vor seinen Augen erschossen wurde. Und ich spüre, wie seine Liebe zu mir neu und noch viel stärker aufflammte, als er mich als Irina auf dem Laufsteg unter der blau schimmernden Glaskuppel der Galleria Vittorio Emanuele in Mailand gesehen hat. Eine Liebe, die so absolut, so heftig war, dass sie meine Seele noch jetzt erschauern lässt.
Den Willen des Herzens vermag niemand zu brechen , wispert mir seine Stimme zu. Ich spüre seine Liebe, kann sie beinahe anfassen. Es scheint, als griffen seine Erinnerungen nach mir und zögen mich in eine Umarmung, wie ich sie noch nie erlebt habe. Aber sie verblasst, diese Liebe. Und er mit ihr.
Die Verzweiflung treibt mich an, zielstrebiger vorzugehen, mit größerer Dringlichkeit. Ich tobe durch Ryans sterbenden Organismus, verwandle mich in ein heilendes Feuer, durchglühe mit allem, was ich bin, seine Wunden, um den Tempel seines Körpers wiederherzustellen, sodass die Flamme sich neu entzünden, zurückkehren kann.
Ich bin ungeschickt und unerfahren, aber meine Berührung ist elektrisierend. Meine Macht ist unbestreitbar und müsste ihn ins Leben zurückholen. Trotzdem spüre ich, wie Ryans Organe allmählich versagen, und die Erinnerungen an sein untadeliges Leben strömen nicht länger in mich hinein. Stattdessen fangen sie an zu flirren und zu verblassen, als würde jemand im Weggehen alle Lichter löschen.
Ich kann keine Toten zurückbringen. Das ist nicht meine Berufung, nicht mein Gebiet. Nur Azrael – und noch ein anderer – kann dieses Recht für sich beanspruchen.
Ryan! , schreie ich auf. Verlass mich nicht!
Aber sein Körper wird zusehends schwächer und er entfernt sich immer weiter. Verbirgt sein Gesicht vor mir, will sich nicht umdrehen.
Es wird still, unerträglich still.
Ich werde ihn verlieren.
In diesem Moment bin ich nichts als wilde, ungerichtete Energie, helle Panik, namenloser Schmerz.
Ich zwinge mich, still zu werden, seinen Geist nicht länger zu verfolgen. Zwinge mich, nachzudenken.
Die Seele ist flüchtig, leichter als die Luft, die ein Körper braucht, um am Leben zu bleiben.
Der Verstand stirbt zuletzt, heißt es. Aber der Weg … der Weg liegt im Herzen. Das hat mir ein Heiliger gesagt, vor langer Zeit, in einem anderen Leben, in einer anderen Epoche.
Und ein anderer Weiser sagte mir, das größte Übel sei körperlicher Schmerz. Ich jedoch schrecke nicht davor zurück, Schmerzen zuzufügen oder zu ertragen. Und Ryan wird mir verzeihen, denn ich kenne keinen anderen Weg.
Ich drehe mich um, sammle mich. Und führe meinen Schlag mit der vollen Kraft
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