Mercy, Band 4: Befreit
verdampft, ehe er auf das Energiefeld trifft, das meine Haut umgibt. Und dennoch spüre ich eine Schwachstelle in mir. Irgendetwas ist anders. Etwas Kleines, Unscheinbares, aber doch Wesentliches, das ich nicht benennen kann.
Obwohl ich im Augenblick die personifizierte Macht bin, kann ich sie nicht richtig kanalisieren, ja, ich kann mich kaum in dieser Gestalt aufrecht halten. Und dabei dachte ich, dass alles gut wäre, wenn ich mein wahres Ich wiederhätte. Dass mir die Qual erspart bliebe, die ich ertragen musste, wenn ich in einem fremden Körper erwachte, ohne zu wissen, wie ich dort hineingekommen war, und diesem Körper meinen Willen aufzwingen musste. Und was ist jetzt? Ein falscher Schritt, und ich zerspringe, fliege in Fetzen.
Ich möchte so gern diesem wachsenden Drang nachgeben, mich aufzulösen. Aber wenn ich das zulasse und in winzige Partikelchen zerberste, bis ich nur noch reine Energie bin, reines Licht – der Zustand, den mein Körper herbeisehnt –, dann stirbt Ryan. Und ich bin schuld daran.
Ich muss mich beherrschen. Aber ich kann nicht.
Der Hagel peitscht herunter, als wollte er die Welt unter sich begraben. Und die beiden Dämonen, die uns jagen, umkreisen über uns den Wald aus steinernen Turmspitzen. Näher kommen sie nicht an uns heran, weil sie von einer unsichtbaren Barriere gebremst werden. Aber die Luft vibriert von ihrer Wut, ihrem Hass, ihren Schreien. Selbst aus dieser Entfernung kann ich sehen, wie schön sie sind – Hakael, der männliche Dämon mit den kurzen rötlichen Locken und den leblosen Augen, die so dunkel sind wie die Mitternacht, und Gudrun, die jetzt Lucs neue Geliebte ist, nachdem er mich verstoßen hat. Die beiden sind seine Handlanger, seine Schergen, die hier zu Ende bringen sollen, was er begonnen hat.
Der Gedanke raubt mir für einen Moment alle Kräfte und ich lehne meine Wange gegen Ryans gesenkten Kopf. Seine Haut ist eiskalt. Statt des Glückstaumels, den ich fühlen müsste, erfüllt mich lähmende Furcht.
Uns bleibt keine Zeit. Nein, in Wahrheit gab es nie eine Zeit für uns. Als seien wir von Anbeginn dazu bestimmt gewesen, einander zu finden, dann wieder zu verlieren, einmal, zweimal, dreimal, wie hilflose Marionetten in einem Spiel, das von höheren Mächten ersonnen wurde.
Schlitternd komme ich zum Stehen. Ich lasse meinen Blick im Dunkeln über das steile Dach der Kathedrale wandern und drücke Ryan so fest an meinen Körper, dass ich seinen stockenden Herzschlag leicht mit meinem eigenen verwechseln könnte, wenn ich einen hätte. Verzweifelt erinnere ich mich daran, dass ich nicht an ein vorbestimmtes Schicksal glaube. Und dass ich gleichermaßen mit der Kraft zu töten oder zu heilen erschaffen wurde. Ich muss Ryan nur irgendwie ins Warme bringen, aus dem eisigen Sturm heraus, weg von den Dämonen und ihrem schauerlichen Gekreische: Haud misericordia! Kein Erbarmen! Und dann tun, was getan werden muss. Alles andere, was zwischen uns ist, die Frage, ob jemals mehr daraus werden kann, verschiebe ich auf später.
Ryan hängt an mir wie ein Ertrinkender, der mich unter Wasser zu ziehen droht. Um ihn besser halten zu können, stemme ich ihn gegen meine rechte Seite, ziehe seinen linken Arm über meine linke Schulter, sodass er aufrecht an meinem Körper liegt. Und da sehe ich es: Meine linke Hand ist mit seiner verschränkt, und aus meinen Fingern schlagen Flammen reiner Energie. Der Schmerz, der von dieser unheilbaren Wunde ausgeht – der Beweis für Lucs Verrat –, ist nur noch ein dumpfes Pochen, aber die Flammen haben ihre hypnotische Kraft, ihre zerstörerische Schönheit bewahrt.
Und plötzlich sehe ich vor meinem geistigen Auge, wie Luc mich aus Irinas Körper herausreißt, jedoch ohne den letzten winzigen Knoten in meiner Seele zu entwirren, in dem der Erzengel Raphael meinen Namen verborgen hat. In diesen Flammen ist mein wahrer Name eingeschrieben – der Name, an den ich mich noch immer nicht erinnern kann. Raphaels Geschenk, das zugleich ein Fluch ist.
Nie werde ich ganz sein, heil – nicht ehe ich mir meinen Namen zurückerobert habe, den Namen, der mir gegeben wurde. Bis dahin muss „Mercy“ genügen, wie nun schon so lange Zeit. „Mercy“ – Erbarmen – war das letzte Wort, das mein wahres Ich hervorbrachte, bis zum heutigen Tag. Ein passender Name. Und vielleicht, denke ich manchmal, habe ich ihn mir sogar schon ein wenig verdient.
Plötzlich zischt ein silbrig grauer Blitz über mich hinweg. Dann noch einer.
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