Mercy, Band 4: Befreit
spüre wieder den Einschlag der Kugel, die Lelas Leben auslöschte. „Ich wäre so gern mit dir gegangen“, murmle ich. „Aber es war mir nicht erlaubt.“ Verzweifelt presse ich meine Handballen gegen die Augen, um den Schmerz zu stillen, der mich noch immer überkommt, wenn ich an dieses Mädchen denke. „Ich beschütze dich, so gut ich kann“, rede ich gegen das weiße Rauschen in meinem Kopf an. „Du weißt nicht, was du verlangst.“
„Und das Gespräch, das wir die ganze Zeit aufgeschoben haben?“, fleht Ryan. „Jetzt ist der richtige Moment dafür, Mercy, also mach endlich den Mund auf. Du hast Angst, ich hab Angst. Aber wir sind jetzt hier, wir sind zusammen und du bist frei!“
„Mag sein, dass ich nicht mehr in einem fremden Körper gefangen bin“, murmle ich hinter vorgehaltenen Händen, „aber du täuschst dich, wenn du glaubst, dass ich frei bin. Du ahnst ja nicht, womit du es zu tun hast. Ich werde nie frei sein.“
Von dir, von ihm. Solange ich lebe.
Ein Bild erscheint vor meinen Augen: die Hügel um den Comer See, die Galleria Emmanuele Vittorio, alles fliegt in die Luft, lodert auf wie flüssiges Feuer, als die feindlichen Mächte aufeinanderprallen – Dämonen und Erzengel. In diesen Erinnerungen kündigt sich Ryans Tod an, und ich kann es fast nicht ertragen.
„Warum streiten wir überhaupt?“, wispert Ryan, und sein Atem streift meine Haut. Vorsichtig legt er seine Hand auf meinen schimmernden nackten Arm und wider besseres Wissen lasse ich es geschehen. Ryan war immer mutig, ja tollkühn, wenn es um mich ging. Wir haben uns gegenseitig gestärkt, denn dazu ist Liebe doch da. Um einem Flügel zu verleihen, die Kraft und den Mut von Titanen.
„So wirklich“, murmelt Ryan staunend.
Als ich seine Haut berühre, offenbart sich mir das Chaos, das in seinem Kopf herrscht – Liebe, von Angst überlagert, mit Hoffnung, Verlangen, Wut und Enttäuschung durchsetzt. Die Last dieser Gefühle, ihr metaphysischer Lärm ist nahezu unerträglich.
Es ist nicht richtig, dass ich Zugang zu seinen innersten Gedanken habe. Ein solches Wissen kann sehr gefährlich werden, wenn es in die falschen Hände gerät. Kein Wunder, dass Luc in dieser Welt so erfolgreich war: Die Sterblichen sind leichte Beute. Alles, was man über sie wissen muss – ihre Träume, ihre Laster –, strömt immer dicht unter der Haut, wie ein unterirdischer Fluss, aus dem man schöpfen, den man vergiften kann.
Obwohl mir nicht bewusst ist, wie es funktioniert, dimme ich Ryan nach und nach herunter, blende ihn aus, bis seine innere Energie, das Gedanken- und Gefühlschaos, das ich auffange, fast erträglich wird. Zumindest kann ich jetzt wieder klar denken. Ich nehme die Hände von meinem Gesicht und drehe mich zu ihm.
Und endlich erzähle ich ihm von zu Hause.
„Wir Elohim“, schluchze ich, „sind nicht dazu erschaffen, Schmerz und Kummer zu empfinden. Alles an mir, nein, an uns beiden, ist ein Ding der Unmöglichkeit, Ryan. Und es macht mir so viel Angst, dass ich meinen Weg nicht mehr klar erkenne …“
„Ich hab das Wort ‚Elohim‘ nachgeschlagen, als du fort warst“, sagt Ryan. „Ich hab eine Menge drüber gelesen, aber ich versteh’s trotzdem nicht wirklich. Das kann so vieles bedeuten. Ich bin kein Ass in Sprachen oder Geschichte, das war nie meine Stärke. Und das ganze Zeug, das ich gelesen habe, hat mich noch mehr verwirrt. Ich will doch nur verstehen, was es bedeutet. Und ich will es von dir hören.“
Er legt seinen Arm um mich und zieht mich an sich, und die Berührung geht mir durch und durch. Ich sehne mich schon so lange danach, dass ich nicht mehr denken und mich nicht rühren kann. Wir schmiegen uns aneinander, Schulter an Schulter und Hüfte an Hüfte, und ich bin wie berauscht von seinem schmerzlich vertrauten Geruch, seiner menschlichen Wärme, der Lebenskraft, die ihn durchströmt. Ich schließe die Augen, lege den Kopf auf seine Schulter und überlasse mich ganz diesem Gefühl, das so echt, so wirklich ist. Und so gut. Nur ein flüchtiger Augenblick, der keine Zeit kennt. Nicht einmal der Erzengel Michael könnte mir diesen Moment verwehren.
Dann fegt ein grelles, unirdisches Licht an den Turmfenstern vorbei, einmal, zweimal, und ich zucke zusammen, denn ich kenne seinen Ursprung nur zu gut. Ich höre Gudrun in der Dunkelheit beinahe atmen, spüre ihren ganzen Hass auf mir, und die Wut ihres Jagdgefährten mit den toten Augen, Hakael. Lucs Handlanger riechen meine Angst, suchen
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