Mercy, Band 4: Befreit
Die Dämonen gehen jetzt so tief herunter, wie sie können, und die Luft ist von unheilvollem Schwirren erfüllt wie von einem tödlichen Heuschreckenschwarm. Dann regnen Feuerbälle auf uns herab, die sich klar gegen den schwarzen Himmel abzeichnen. Jedes dieser Geschosse ist perfekt geformt und nicht größer als die hohle Hand eines Dämons. Mir bleibt keine Zeit zum Weglaufen, geschweige denn mich zu verstecken. Hier oben gibt es kein Versteck. Ich kann Ryan nur mit meinem Körper schützen, so gut es geht, und beten, dass das Ende schnell kommt und dass wir uns wiederbegegnen werden.
Aber der Ort hier hat seine eigene Magie. Die Flammenkugeln treffen auf eine Barriere, die nicht einmal ich sehen kann, und zerfließen in schimmernden Lichtwellen, um sich dann in Nichts aufzulösen. Immer wenn eines der Geschosse zerbirst und verglimmt, flammt der Himmel in düsterem Rot auf – wie ein teuflisches Polarlicht.
Endlich erwache ich aus meiner Erstarrung. Los, rühr dich! , schreie ich mich an.
Ein gewaltiger Donnerschlag ertönt, laut genug, um Tote zu wecken, gefolgt von einem Blitz, der den ganzen Horizont aufreißt. Hoch über uns, auf der Spitze des Turms, schwebt die große, breitschultrige Gestalt eines Mannes. Er ist in schwarze Gewänder gehüllt, das lange Silberhaar weht im Sturm. Sein Gesicht ist schön, jung und schrecklich, seine Haltung entspannt, sein Blick ruhig, wachsam, die Augen blau wie der Taghimmel.
Ein namenloser Schreck durchfährt mich, als er mich ansieht. Es ist der Erzengel des Todes, der die Seelen der Unschuldigen begehrt, der unwiderstehlich von ihnen angezogen wird. Unschuldige Seelen sind seine Domäne, seine besondere Berufung. Für die anderen hat er keine Verwendung.
Azrael! , schreie ich in seinem Kopf. Bleib weg von ihm! Bleib ja weg!
Ein leichtes Lächeln umspielt Azraels Lippen, dann wird es wieder dunkel. Oder habe ich mir das nur eingebildet? Als ich wieder zu dem Kreuz emporschaue, das vom Dachgiebel der Kathedrale aufragt, ist nichts mehr zu sehen.
Niemand hat Macht über den Tod. Das ist ein unverbrüchliches Gesetz. Aber ich denke nicht daran, Ryan gehen zu lassen, ehe wir herausfinden konnten, was wir einander bedeuten. Das ist mein gutes Recht.
Und es steht mir auch zu, ein paar Antworten auf meine Fragen zu bekommen und meinerseits Antworten zu geben.
Verzweifelt stolpere ich das steile Dach hinunter, Ryans Kopf an meinen Hals gepresst. Seine linke Hand umklammere ich noch immer fest mit meiner brennenden Linken. Silbrige Flammen schlagen aus meiner Haut, hüllen allmählich seine Hand ein, und doch bleibt er völlig unberührt davon, erstarrt langsam zu Stein.
Einen Augenblick befürchte ich, dass sein Herz tatsächlich zu schlagen aufgehört hat, bis der Herzschlag stockend wieder einsetzt. In meiner Angst schlittere ich im Laufschritt nach unten, während die Dämonen über uns höhnisch kreischen: Haud misericordia!
Lucs Handlanger können warten, ewig, wenn es sein muss. Ich nicht.
Am Ende eines Durchgangs stoße ich auf eine Tür, die in den Stein gehauen ist – der Eingang zum großen Turm. Dahinter führt eine Treppe zur Straße hinunter, direkt auf die Piazza del Duomo, den Domplatz. Ich habe diese Treppe jahrhundertelang nicht mehr betreten, aber ich erinnere mich daran. Ich weiß, dass ich im Turm ausreichend geschützt bin, um Ryans Verletzungen zu heilen.
Kaum sind wir in die sichere Dunkelheit des Turms eingetaucht, hört Ryans Herz endgültig auf zu schlagen.
Er rutscht mir aus meinen kraftlosen Armen und knallt auf den Steinboden. Sekunden später kauere ich über seinem reglosen Körper. Ryans Haut ist aschfahl und er atmet nicht mehr.
Ich schreie meinen Schmerz heraus, und meine linke Hand lodert noch heller auf, sodass es aussieht, als habe sich ein strahlender kleiner Stern in diesen engen, stickigen Raum verirrt. Uns bleibt keine Zeit mehr. Zeit, die wir nie hatten.
Draußen wüten die Dämonen, sie suchen einen Weg zu uns herein, eine Möglichkeit, an mich heranzukommen. Aber fürs Erste sind wir in Sicherheit, an einem der wenigen Orte, an den sie uns nicht folgen können. Ich schöpfe neuen Mut und flehe den Erzengel des Todes um Gnade an.
Azrael! Ich fühle deine Gegenwart und beschwöre dich, deine Hand zurückzuziehen. Halt ein, Bruder! Noch nicht, ich bitte dich!
Es ist zu früh. Zu früh.
Wir sind tief ins Innere des Turms vorgedrungen. Ich kauere auf einem Treppenabsatz und schmiege mich eng an Ryan. Über und unter
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