Meridian - Flüsternde Seelen
fühlte sich an, als ramme jemand ein Steakmesser und Nadeln in mich hinein, und strahlte bis in den linken Arm aus. Nicole war sofort an meiner Seite und hielt mich fest. Ich schnappte nach Luft. Die Übelkeit ließ nach.
»Wo willst du hin, alter Mann? Komm sofort zurück, verstanden?« Die Heimleiterin brüllte weiter, während sie die Brust des Mannes bearbeitete und ihm Luft in den Mund pustete. »Du musst am Leben bleiben, bis sie hier ist …«
Nicole und ich wechselten Blicke. Wer war diese »sie«? Und was hatte sie damit zu tun, ob der Mann lebte oder starb?
Mir stellten sich die Nackenhaare auf, und ich erschauderte. Der Geschmack von frischem Mozzarella, roter Sauce, Ricotta-Käse und Knoblauch kitzelte meine Zunge.
Als ich meine Stimme wiedergefunden hatte, näherte ich mich dem Bett. »Ich übernehme das.« Ich trat auf den Mann zu und fühlte ihm den Puls. Schwach, wenn überhaupt noch vorhanden.
Die Heimleiterin wich mit aufgerissenen Augen und gerötetem Gesicht zurück. »Dann los. Ich kann nicht mehr weitermachen. Ich habe in der Stadt eine Verabredung mit Ms. …« Sie verstummte und holte tief Luft. »Pass auf, dass nichts passiert.« Die Heimleiterin war nassgeschwitzt, und ihr hochroter Kopf zeigte, dass die fünfminütige Anstrengung sie an die Grenzen ihrer ohnehin geringen körperlichen Leistungsfähigkeit gebracht hatte.
»Gut.« Ich beugte mich vor und horchte nach Mr. Taylors Atem, während die Heimleiterin aus dem Zimmer watschelte. Sie war der Inbegriff des Vorher-Fotos in Werbeanzeigen für Fettabsaugungs-Operationen. Ich begann zwar mit einer halbherzigen Mund-zu-Mund-Beatmung, wusste aber in meinem Innersten, dass es zu spät war. Mini lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht an meine Schienbeine und wärmte mir die Zehen. Kurz flammten Schwindel und Erschöpfung wieder auf und wurden dann zu einem begleitenden Knistern hinter meinen Augen.
»Sie ist fort.« Nicole schloss die Tür, um die neugierigen Kinder vor dem Anblick zu schützen.
»Er auch.« Seufzend sank ich zu Boden. Mini rieb sich an mir, doch selbst ihr Trost half mir nicht weiter.
»Sein Zustand war schon bei seiner Ankunft sehr schlecht. Keine Ahnung, warum sie ihn überhaupt noch verlegt haben. Wenn sie ihn in Ruhe gelassen hätten, wäre er vermutlich heute im Krankenhaus gestorben.« Nicole setzte sich neben mich, zwar ohne mich zu berühren, aber doch nah genug, dass ich ihre Gegenwart spürte.
»Mit der Heimleiterin wird es immer schlimmer«, sagte ich.
Nicole nickte. »Ich weiß. Es ist, als würde sie langsam den Verstand verlieren.«
»Einmal habe ich sie dabei beobachtet …« Ich konnte es nicht laut aussprechen. Meine schreckliche Hilflosigkeit, als die Heimleiterin die Spritze in die Vene meines Wunsch-Großvaters gebohrt hatte, war unermesslich. Zu viel. Ich schob die Erinnerung beiseite. Wenn Kirian nicht gewesen wäre, wäre ich weggelaufen und hätte ein Leben auf der Straße riskiert. Nun war er fort, und es gab nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Nicole nickte, als wüsste sie Bescheid.
Tränen brannten unter meinen Lidern. Ich zog die Nase hoch, um sie zu unterdrücken, während Mini aufs Bett sprang und dort sitzen blieb. Sie miaute kläglich. Es brach mir das Herz, dass Mr. Taylor so hatte gehen müssen. Ich gab mir doch solche Mühe, dass es für die Menschen, für uns alle, ein gutes Ende nahm.
»Juliet, du bewirkst mehr, als du ahnst«, sagte Nicole, als hätte ich meine Gedanken laut ausgesprochen. Sie strich mir das Haar zurück, das mir aus dem Zopf gerutscht war.
Die Tränen strömten heftiger. »Es ist nicht genug.«
Sie beugte sich vor und nahm mich in die Arme. »Doch, meine Freundin, das ist es.«
Mini sprang zu mir herunter und rieb ihr Köpfchen an meinen Händen und meinem Gesicht, als ob sie das Schlechte dadurch wegwischen könnte.
»Sie haben niemanden. Wir haben niemanden.« Ich lag zusammengerollt auf der Seite und bettete den Kopf auf Nicoles Schoß. Erschöpfung und Selbstmitleid ergriffen Besitz von mir. »Niemanden.« Ein Schluchzer stieg in mir auf. Dann noch einer. Ich bekam kaum noch Luft, als mein Körper von den so lange aufgestauten Gefühlen geschüttelt wurde.
Nicole ließ mich weinen und flüsterte dabei beruhigende Worte.
Ich versuchte, mich zusammenzunehmen. Ich hasste dieses Haus. Dieses Leben. Die Menschen, die Tag für Tag herkamen, um vor meinen Augen zu sterben. Die Kinder, die ich versorgte wie eine Mutter, ohne die dafür
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