Meridian - Flüsternde Seelen
nötigen Mittel oder das Wissen zu haben. »Niemanden. Wir haben niemanden.«
»Wir haben einander. Und die Toten werden von ihren Familien erwartet. Sie sind nicht allein, wenn sie sterben.«
»Das glaube ich nicht.« Wütend setzte ich mich auf. Wie konnte sie so etwas sagen? »Wenn sie eine Familie hätten, die sich für sie interessiert, wären sie nicht hier. Niemand von uns wäre hier. Wenn wir nur einen einzigen Menschen hätten, müssten wir alle nicht hier sein und allein leben oder sterben. Jeder von uns schlägt nur die Zeit tot. Bis wann? Bis zum Tod? Was soll das bringen? Warum so lange warten?« Ich drosch mit den Fäusten auf das Linoleum ein. Morgen würde ich sicher blaue Flecke haben, aber jetzt spürte ich keine Schmerzen.
»Es gibt eine Welt, die du nicht sehen kannst. Aber sie können sie sehen. Und fühlen«, antwortete Nicole leise und wischte mir die Wangen mit Papiertaschentüchern ab. Sie hatte mehr Erfahrung darin, als man ihr in ihrem Alter zugetraut hätte. Ich schnaubte verächtlich.
»Das ist mein Ernst. Es steckt mehr dahinter, als du und ich ahnen. Du musst Vertrauen haben, glauben und hoffen.«
Ich schüttelte den Kopf.
Ihr Tonfall wurde schärfer. »Was nützen all die Herzchen, Blumen und Regenbögen, von denen du den Kindern erzählst, wenn du selbst nicht ein bisschen daran glaubst? Du bist dir ein wenig Vertrauen schuldig.«
»Mag sein.« Insgeheim und in meinen dunkelsten Tiefen hoffte ich das. Ich hoffte, dass es im Leben noch etwas anderes gab als Elend, Leid und grausige Einsamkeit. Allerdings war diese Hoffnung nur sehr winzig, ein bleiches Flackern, das mit jedem Tag in diesem Heim schwächer wurde und im Begriff war, ganz zu verlöschen. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch …«
»Du wirst es aushalten, bis es nicht mehr nötig ist.« Nicoles Tonfall war streng und duldete keinen Widerspruch. »Also, was gibt es zu essen, während die Heimleiterin weg ist?«
»Gefüllte Ravioli. Vielleicht einen Salat Caprese, falls du frischen Mozzarella auftreiben kannst.«
»Ich hätte ihn nicht für einen Freund der italienischen Küche gehalten. Eher für jemanden, der Hausmannskost bevorzugt.«
»Schöne Erinnerungen an seine Zeit beim Militär.« Das wusste ich, ohne sagen zu können, woher. Ich malte mir die Leben der Menschen aus, die hier starben – oder hatte zumindest eine blühende Phantasie, was die Frage anging, wie sie wohl gewesen sein mochten. Ich konnte nicht erklären, warum ich die Lieblingsspeisen und Rezepte der Verstorbenen kannte. Vielleicht hatte ich ja einfach nur ein Händchen fürs Kochen.
Nicole nahm Äußerungen wie diese einfach hin. So wie die anderen Kinder auch. »Das klingt logisch. Ich habe noch nie so gut gegessen wie bei dir.«
Ich tat das Kompliment mit einem Achselzucken ab. »Ich bin nichts Besonderes.«
»O Juliet, du bist etwas Besonderes. Glaub endlich daran.«
Unmöglich.
Mini stütze die Vorderpfoten auf meine Schultern und leckte fein säuberlich mein Gesicht ab, bis nichts mehr von Tränen und Rotz übrig war. Das Peeling konnte ich mir jetzt auch sparen.
Wir machten die Tür auf, umarmten die Kinder und schickten sie zum Versteckspielen. Nicole wartete darauf, dass das Bestattungsinstitut die Leiche abholte, während ich in die Küche ging.
Ich hatte gerade Nudelwasser aufgesetzt und fing an, den Teig für die Ravioli anzumischen, als Bodie hereinkam. Eigentlich wollte ich nur noch schlafen und an gar nichts mehr denken, doch bevor das möglich war, musste ich noch eine ganze Liste von Erledigungen abarbeiten.
»Ein Mann will dich sprechen«, meldete Bodie.
»Mich?« Ich legte das Küchenmesser weg.
Der größte Mann, den ich je gesehen hatte, stand in der Vorhalle. Er hatte einen Stapel farbiger Papiere in der Hand, kehrte mir den Rücken zu und betrachtete die Porträts der früheren Bewohner und Besitzer dieses Hauses.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich. Die Heimleiterin war streng dagegen, dass wir mit Fremden sprachen, aber sie war ja nicht da.
»Wie reizend.« Seine blauen Augen weiteten sich, und er zeigte beim Lächeln die Zähne, als er sich zu mir umwandte. Ich empfand seine Begeisterung als ein wenig beunruhigend.
»Kennen wir uns?«, erkundigte ich mich. Sein schneeweißer Bart war zu einem komplizierten Zopf geflochten, ganz ähnlich wie mein Haar.
Sein Lächeln verflog. »Nein, tut mir leid. Sie erinnern mich an eine Freundin. Ich heiße Rumi und bin Inhaber eines Glasateliers ein Stück die
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