Meridian - Flüsternde Seelen
Straße hinunter in Carmel. Eigentlich wollte ich die Mitarbeiter hier zu meinem Tag der offenen Tür einladen.« Seine offene Art weckte sofort mein Vertrauen, obwohl er blinzelte, als bräuchte er eine Brille.
»Unsere Heimleiterin ist gerade nicht da.«
»Schon gut. Darf ich ein paar dieser Einladungen hierlassen?« Er hielt mir die Zettel hin.
Ich griff danach, obwohl ich wusste, dass ich sie der Heimleiterin niemals geben durfte. Sonst würde ich nur bestraft werden. »Vielleicht ein paar.«
»So viele, wie Sie wollen. Verzeihung, ich habe Ihren Namen nicht verstanden.«
»Ich heiße Juliet.« Ich war zu müde, um einen falschen Namen zu erfinden. Der Mann wirkte nicht bedrohlich.
»Ah, ein hübscher Name.«
»Kann sein.« Ich tat das Kompliment mit einem Achselzucken ab.
»Das beste Lied meiner Lieblingsband. Kommen Sie doch zu mir in den Laden. Dann spiele ich es Ihnen vor.« Er summte ein paar Takte.
»Klar«, stimmte ich zu, obwohl ich weder die Absicht noch die Möglichkeit hatte, seine Einladung tatsächlich anzunehmen.
»Also gut. Wohnen hier viele Kinder?«, fragte er auf dem Weg zur Tür. »Ihre Brüder und Schwestern?«
»O nein, wir sind Pflegekinder.« Wie immer war es mir peinlich, das Fremden gegenüber zuzugeben. So, als ob wir etwas verbrochen und uns die Suppe selbst eingebrockt hätten.
»Aha.« Er schien nicht ganz zu verstehen. »Nun denn, ich hoffe, wir sehen uns wieder.« Er hielt inne, zögerte kurz und ging.
»Auf Wiedersehen.« Als ich die Tür hinter ihm schloss, hörte ich ihn draußen auf dem Gartenweg pfeifen.
»Wer war das?« Sema steckte den Kopf aus den säulenartigen Vorhängen im Wohnzimmer. Sie hatte die Angewohnheit, sich stundenlang in den Vorhängen zu verstecken. Inzwischen hielt ich Ausschau nach ihren unter dem Rand hervorlugenden Zehen, wenn ich ein Zimmer betrat.
»Niemand.« Rasch verbrannte ich die Einladungen im Kamin, wo sie sich in verkohlte Papierspiralen verwandelten. »Niemand«, wiederholte ich so lange, bis ich es selbst glaubte.
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Kapitel 12
I ch hatte das Buch meiner Tante und einige Notizbücher auf dem Küchentisch in der Hütte ausgebreitet. Es waren nur noch wenige freie Seiten übrig, denn ich hatte ein paar Eintragungen hinzugefügt. Ich fand, dass das, was ich schrieb, sehr wichtig sein musste, damit es verdiente, in dieses Buch aufgenommen zu werden. Es war, als würde jeder Strich meines Stifts von einem Gremium überprüft, das sich aus meinen Vorfahren zusammensetzte. Bald würde ich ein neues Buch anfangen müssen, und vielleicht würde ich ja mehr schreiben, wenn ich nur noch meine eigenen Texte vor Augen hatte. In den dicken Ledereinband waren Rosen, Fenster, Kerzen und die Umrisse von Tieren und Insekten eingeprägt. Die Seiten bestanden aus dünnem, brüchigem Pergament. Hin und wieder entdeckte ich fettige Fingerabdrücke auf dem Papier, und außerdem war die verblassende Tinte nicht wasserfest. Nun suchte ich nach einem Eintrag, einer Anspielung oder auch nur einem kurzen Satz, der mir Aufschluss darüber geben würde, ob in dieser alten Villa eine Aternocta oder eine Fenestra lebte.
Eine Fenestra kann sich schon von frühester Jugend an das Gefühl gewöhnen, Menschen sterben zu sehen. Wenn man sie über ihre Gabe im Dunkeln lässt, kann man sie zu einem Wechsel zwingen. Tötet ein Aternoctus in ihrer Gegenwart eine andere Fenestra, bleibt ihr vielleicht nicht viel anderes übrig, als ihre Energien mit denen der Aternocti zu vereinen, um zu überleben. Das ist eine Vergewaltigung ihres freien Willens und ihrer Unschuld und auch der Grund für die Tradition, Fenestrakinder vor den Aternocti zu verstecken.
»Beinahe.« Ich war kurz davor, ein Muster zu erkennen.
»Was?« Tens blickte von seinem Laptop auf. Er hatte eine modernere Herangehensweise ans Recherchieren. Seit er die Freuden der Technik entdeckt hatte, liebte er seine Spielzeuge.
»Ich bin nah dran«, erwiderte ich, ohne den Blick vom Text zu heben.
»An was?«
»Keine Ahnung«, brummelte ich. »An irgendwas.« Genau hier, am Bildrand und im Nebel, wartete etwas auf mich. Als Custos bellend an der Tür kratzte, machte ich einen Satz. »Custos!« Sie war schon den ganzen Tag unruhig. Kurz darauf ertönte ein forderndes Klopfen.
»Das ist unheimlich«, murmelte ich, versteckte das Buch unter einem Papierstapel und tarnte den Buchrücken mit einer Serviette. Wenn es den Aternocti in die Hände fiel …
Tens schlenderte zur Tür. »Fertig?« Ich bemerkte
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