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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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ihren Kleidern. Ich befürchtete, die Heimleiterin könnte sie ihr wegnehmen, aber zum Glück schien sie sie nicht zu bemerken.
    »Es ist ein Vers aus dem zweiten Buch Mose.« Nicole kam näher, damit ich es lesen konnte, doch ich erkannte nur
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 Moses
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in winziger Schreibschrift. »Was bedeutet das?«
    »Der Vers lautet:
Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, dass er dich auf dem Wege behüte.
Meine Familie hat ihn mir geschenkt, bevor wir getrennt wurden.«
    »Das ist schön.« Noch schöner war es, dass Nicole nach allem, was sie durchgemacht hatte, noch immer an Schutzengel glaubte. Im Gegensatz zu mir. Ich konnte das nicht. Mir fehlten die Beweise, die ich brauchte, um zu glauben.
    Sie sah mich stirnrunzelnd an. »Du glaubst nicht an Engel, oder?«
    Da ich keinen Grund hatte zu lügen, schüttelte ich den Kopf. »Nein.«
    »Ich verstehe.« Sie ließ die Schultern hängen.
    Ich wollte ihr klarmachen, dass ich mich über ihre Fähigkeit zu glauben freute. Schließlich brauchte der Mensch Hoffnung. »Es ist nicht so, dass ich ihre Existenz für unmöglich halte. Ich habe einfach noch nie einen Hinweis darauf entdeckt.« Nichts Wundersames, Göttliches oder Außerweltliches, nur stinkende, abstoßende Wirklichkeit. »Hier doch nicht.«
    Sie strahlte mich an. »Ich denke, du wärst überrascht, Juliet.«
    Zorn flammte in mir auf, und ich erhob die Stimme. »Wenn es Engel gäbe, würden sie uns, verdammt noch mal, hier rausholen, anstatt uns einzusperren«, widersprach ich.
    »Vielleicht können sie so etwas nicht, sondern sind nur da, um dir das Überleben zu erleichtern.« Sie steckte die Kette wieder unter die Bluse und griff nach einem Stapel sauberer Wäsche.
    »Was soll das bringen?« Überleben? Das schaffte ich auch allein. »Nein, wir sind auf uns selbst gestellt.« Ich knallte die Tür des Trockners so heftig zu, dass sie wieder aufsprang.
    »Vielleicht wirst du mir eines Tages glauben.«
    »Vielleicht.« Ich fing an, die Waschmaschine ein zweites Mal zu befüllen.
    »Die Akten werden in dem grauen Aktenschrank aufbewahrt. Nur für den Fall, dass du deine lesen willst.«
    »Der ist aber abgeschlossen.« Am Anfang meines Aufenthalts hier hatte ich mich unzählige Male ins Büro der Heimleiterin geschlichen, in der Hoffnung, einen Blick in meine Akte werfen zu können. Vielleicht enthielt sie ja die Adresse meiner Eltern und eine Busfahrkarte nach Hause.
    Nicole neigte den Kopf zur Seite und starrte durch mich hindurch. »Der Ersatzschlüssel ist mit Klebeband hinter dem gerahmten Foto vom Sohn der Heimleiterin befestigt. Wollte ich nur mal gesagt haben.«
    Ich nickte, eher um mich bei Nicole zu bedanken, als weil ich vorhatte, etwas mit dieser Information anzufangen. »Ist das ihr Sohn? Der blonde Typ, der aussieht wie ein Filmstar?«
    »Nehme ich wenigstens an.« Nicole zuckte mit den Schultern. Die Gegensprechanlage surrte. »Das ist der Neue im Grünen Zimmer. Ich gehe schon.« Nicole tätschelte mir die Schulter, als sie mich passierte.
    »Wo ist mein Engel?«, flüsterte ich, als sie fort war. »Warum habe ich nicht auch einen verdient?«
    Sema kam den Flur entlang auf mich zugerannt. Ihre Zöpfe flatterten wie Flügel aus Lakritze. Das Mondgesicht passte zu ihrer gedrungenen Figur. Ich musste unbedingt größere Kleider für sie finden, bevor die Heimleiterin Anstoß daran nahm, dass man zwischen Hemd und Hose Semas Bauch sah. »Komm schnell. Der Mann im Grünen Zimmer kriegt keine Luft mehr«, rief sie.
    Als ich die Treppe hinauf in Richtung Zimmer hastete, beschleunigte die Wut meine Schritte. Ich war zornig auf dieses Heim und auf dieses Leben, das an meiner inneren Ruhe zehrte. So etwas war nicht normal. Kinder sollten nicht in Panik geraten, weil ein fremder Mensch im Sterben lag. Das war nicht richtig. Wenn es sich um die eigenen Großeltern oder einen anderen geliebten Angehörigen gehandelt hätte, wäre es etwas anderes gewesen. Doch Kinder mit der Pflege todkranker Menschen zu betrauen war Missbrauch. Und ich war machtlos dagegen. Da ich hier gefangen war, war vorwärts der einzige Weg, der mir offenstand.
    Die Heimleiterin beugte sich über Mr. Taylor und mühte sich mit Wiederbelebungsmaßnahmen ab. »Wo warst du? Er wurde erst vor zwei Stunden eingeliefert. Die Papiere sind noch nicht abgelegt. Tu etwas!«, schrie sie mich an, während sie auf seiner Brust herumdrückte.
    Ein Schwindelanfall ließ mich seitlich gegen den Türrahmen taumeln. Der scharfe Schmerz in meiner Brust

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