Meridian - Flüsternde Seelen
aber bald können sie fliegen.«
Wieder schüttelte ich den Kopf, wurde allerdings neugierig.
»Sie sind unten am Fluss. Angelst du gern? Ich ja. Schwimmen mag ich auch. Hast du schon mal Glühwürmchen in einem Glas gefangen?«
Noch ein Kopfschütteln. Glühwürmchen begeisterten mich, doch ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt eines gesehen hatte.
»Magst du Geleebohnen? Ich habe welche da und gebe dir ein paar ab. Am liebsten esse ich die mit Traubengeschmack und die mit Butterpopcorngeschmack zusammen. Was ist dein Lieblingsgeschmack?« Er streckte die Hand aus. »Du musst nicht reden, wenn du nicht willst.« Er lächelte. »Ich habe einen Wurm und will die Rotkehlchen damit füttern. Möchtest du zuschauen?«
Ich hörte rasche Schritte auf der Treppe und das Stöhnen der Erwachsenen in den Zimmern unter uns und wollte nichts wie raus. Also nickte ich, nahm seine Hand und ließ mich von ihm auf die Füße ziehen.
Am nächsten Morgen traf Nicole mich dabei an, wie ich wieder einmal Bettlaken wusch. Nach dem Trocknen mussten sie gebügelt und akkurat gefaltet werden.
Die Kinder im DG bekamen »Heimunterricht«, aber mit sechzehn schickte man uns in ein Internat oder in eine Berufsausbildung. Da ich nicht über die nächste Mahlzeit, den nächsten Waschtag oder den nächsten Todesfall hinausdenken konnte, war es mir unmöglich, mir meine Zukunft auszumalen. Nach meinem sechzehnten Geburtstag wurde die Welt schwarz, so dass ich nichts mehr erkennen konnte. Allerdings musste ich bald anfangen, mich damit zu beschäftigen, denn der 10 . Februar näherte sich mit ausgebreiteten Armen und gefletschten Zähnen.
Früher einmal hatte ich von einer Zeit nach dem Heim geträumt. Kirian und ich redeten darüber, mit dem Rucksack durch Europa zu reisen oder nach Mexiko zu fahren und dort am Strand von Meeresfrüchten und Kokosnüssen zu leben. Ich stellte mir eine Hochzeit, ein Baby und ein eigenes Zuhause vor. Doch diese Regenbögen lösten sich in Luft auf und zerfielen zu Asche, als Kirian sechzehn wurde und mich hier zurückließ.
»Hat Bodie letzte Nacht bei dir geschlafen? Er ist rausgegangen, während ich Semas Kotze aufgewischt habe«, sagte Nicole, zog einen Stapel Laken aus dem Trockner und mühte sich damit ab, sie zu falten.
»Geht es ihr heute wieder besser?«
»Alles in Ordnung.«
Ich nickte. »Ja, er war bei mir.«
»Wie fühlst du dich?«
Ich blinzelte und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte, aber irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
»Wo hast du Schmerzen?«
»Wo habe ich keine?«
»Gib mir deine Hand.«
»Warum?«
»Tu es einfach.«
Ich streckte die Hand aus, worauf sie danach griff. »Augen zu.«
»Nicole …«
»Los.«
Nachdem ich die Augen geschlossen hatte, rieb sie meine Hand. Die dabei entstehende Wärme fühlte sich himmlisch an. Ich schwankte hin und her.
Sie hörte auf. »Besser?«, fragte sie.
Ich schluckte und testete rasch meine Gliedmaßen. »Ja, wirklich. Wie stellst du das an?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Hast du geschlafen?«
Geschlafen? Nicht in diesem Leben. Bodie trat im Schlaf um sich. Außerdem lag er am liebsten quer auf der winzigen Matratze. »Ein bisschen. Er hat sich nach meiner Mutter erkundigt.«
»Nicht schon wieder«, stöhnte Nicole voller Anteilnahme. »Was hast du geantwortet?«
»Das Übliche«, wich ich aus.
»Weißt du eigentlich etwas über deine Vergangenheit? Kennst du die Wahrheit?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Anfangs habe ich noch nachgefragt.« Doch ich hatte es aufgegeben, als ich jedes Mal eine andere Geschichte zu hören bekam. »Und wie war es bei dir?«
Ein trauriger Ausdruck trat in ihre Augen. »Drogen. Meine Eltern konnten mich nicht behalten. Mein Onkel und meine Tante wollten mich aufnehmen, aber wir wurden auch getrennt.«
»Es freut mich, dass du erwünscht warst und geliebt worden bist. Das ist dir sicher eine Hilfe.« Besser als das Wissen, dass sich niemand für einen interessierte. Ich schüttelte die vergilbten Baumwolllaken aus, um die Faltstellen zu glätten.
Nicole hielt inne und betastete mit einer geistesabwesenden Geste ihre Halskette. »Vielleicht haben deine Eltern dich ja auch geliebt …«
Ich wollte keine hohlen Phrasen und abgedroschenen Sprüche hören. »Was steht da auf deinem Kettenanhänger?«, unterbrach ich sie deshalb.
Die Kette mit dem herzförmigen Anhänger verließ Nicoles Hals nie. Sie trug die Kette unter
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