Meridian - Flüsternde Seelen
hat?«
»Seine Lippen haben gezittert, und er hat zu weinen angefangen.«
»Richtig. Dazu braucht man kein Hellseher zu sein.«
»Stimmt.« Zu meiner Enttäuschung musste ich zugeben, dass er recht hatte.
»Ich deute deine Körpersprache und deinen Gesichtsausdruck wie du meinen. Mein Gott, Merry, wenn ich wüsste, wie ich das mit der Hellseherei hinkriege, wäre ich vielleicht besser darin.«
»Was meinst du damit?«
»Sollte ich nicht auch wissen, wie ich dich vor negativen Gefühlen schützen kann? Schließlich bin ich doch dein Wächter, richtig? Heißt das, dass ich dich vor allem beschütze oder nur vor einigen Dingen?«
»So habe ich mir das noch gar nicht überlegt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es deine Aufgabe ist, mich gegen alles abzuschirmen. Das wäre ja total unausgewogen.«
»Gut, aber wozu bin ich dann eigentlich da?«
»Wovon redest du? Tens, glaubst du, ich würde das hier ohne dich schaffen? Ich will mich nicht ohne dich durchschlagen müssen.« Ich legte ihm die Hand aufs Knie. »Ich würde das niemals hinkriegen, wenn ich nicht wüsste, dass du mir wieder auf die Beine hilfst. Und das will ich für dich auch tun. Ich habe nur keine Ahnung, wie. Immer verlasse ich mich nur auf dich, verstehst du?«
Er nickte.
»Wann hast du angefangen, mich zu spüren?«
»Ich glaube, das habe ich schon immer getan. Es ist mir nur erst sehr viel später klargeworden.«
»Wann?«, hakte ich nach.
»Anfangs habe ich dich als meine Phantasiefreundin bezeichnet. Aber es war mehr als das. Ich wusste, was du gedacht und getan hast, allerdings nur gelegentlich«, erwiderte er.
»Was ist das Erste, woran du dich erinnerst?«
»Das erste Mal, als ich dachte, dass ich verrückt werde?«, fragte er.
Verdattert musterte ich seine Augen, um festzustellen, ob er Witze machte. Nein, seine Miene war todernst. »Verrückt?«
»Es ist nicht normal, die Gespräche anderer Leute zu hören oder die Dinge mit ihren Augen zu sehen. Erinnerst du dich an die Feier zu deinem sechsten Geburtstag? Ich war neun.«
Ich hatte kaum etwas von diesem Tag im Gedächtnis behalten, vermutlich mit Absicht. »Das war das letzte Mal, dass Mom eine Geburtstagsfeier für mich veranstaltet hat.«
»Und weißt du noch, warum?«
»Nein.« Das hatte ich verdrängt.
»Ihr wart beim Schlittschuhlaufen«, half er mir auf die Sprünge.
»In Portland?«
»In einer Eishalle.«
Ich nickte. Vor meinem geistigen Auge entstanden Bilder.
»Sieben kleine Mädchen kamen mit ihren Mommys. Du hast belauscht, wie die Mütter darüber redeten, was für ein seltsames Kind du seist. Sie hätten ihren Töchtern nur erlaubt zu kommen, wenn sie selbst dabei sein dürften. Du hast dich unter dem Tisch versteckt.«
»Und wollte nicht mehr herauskommen.« Ich erinnerte mich daran, als wäre es jemand anderem passiert.
»Richtig.«
»Ich hatte Kopfschmerzen. Entsetzliche Kopfschmerzen.«
»Und?«
»Und eines der kleinen Mädchen, Becky, ist einem älteren Kind, das sehr schnell fuhr und sich aufspielen wollte, in die Quere gekommen.«
»Und?«
»Sie wurde weggeschubst, und dann sind die beiden zusammen gestürzt. Becky hat sich sehr schwer den Kopf gestoßen.«
»So schwer, dass das Eis voller Blut war.«
Ich nickte und sah es vor mir, als wäre ich wieder dort. »Sie lag reglos da. Ich musste mich übergeben und blieb unter dem Tisch. Um mich herum waren laufende Füße. Sanitäter kamen.«
»Die Mütter haben ganz schnell ihre Kinder weggeschafft. Deine Mom hat dich in dem Chaos unter dem Tisch vergessen, und als alles vorbei war, ist sie dich holen gekommen. Sie hat dich nach Hause gefahren und eine Woche lang nicht mit dir gesprochen.«
Ich rieb mir die Augen. Meine Mutter hätte mich beruhigen können. Herrgott, sie kannte doch meine Familiengeschichte. Stattdessen hatte sie so getan, als sei ich ein Fehler der Natur, der sich beheben ließ, indem man ihn ignorierte.
»Weißt du noch, was aus Becky geworden ist?« Tens malte Kreise auf meinen Rücken.
»Nein.«
»Durch den Sturz hat sie sich ein Hirntrauma zugezogen.«
»Ist sie daran gestorben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie ist nie mehr zur Schule gekommen.«
»Du hast die Schule gewechselt.«
»Wirklich?«
»Deine Mom fand, dass du einen Neuanfang brauchtest.«
»Und das hast du alles gespürt?«
»Ich habe dabei zugeschaut, als wäre ich dabei. Und mich gefühlt, als wäre ich du. Ich wollte etwas dagegen tun und habe meiner Mom davon erzählt. In allen Einzelheiten. Sie
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