Meridian - Flüsternde Seelen
strammstehen lassen. »Du kannst das Telefon hier benutzen.«
Privatsphäre? Fehlanzeige. Erstaunt fragte ich mich, warum Ms. Asura mich sprechen wollte.
Die Heimleiterin grinste hämisch, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Der 10. Februar steht vor der Tür. Es müssen Pläne gemacht werden.«
Mein Geburtstag.
»Aber ein bisschen dalli!«, schrie sie mich an und holte nach meinem Gesicht aus.
Ich zuckte zusammen, allerdings eher, um ihr Befriedigung zu verschaffen, als weil ich mich wirklich erschreckt hätte. Dann griff ich nach dem Telefon und hielt den Hörer in der Hand, während sie die Nummer eintippte.
»Juliet, ich habe auf deinen Anruf gewartet!« Ms. Asura schien sich zu freuen, von mir zu hören. So, als ob es meine Idee gewesen wäre, mich bei ihr zu melden. Die Heimleiterin machte ein böses Gesicht.
»Ja?«, erkundigte ich mich und versuchte, bescheiden und unterwürfig zu klingen.
Offenbar bemerkte Ms. Asura nichts von der angespannten Stimmung, denn ihre Fröhlichkeit legte sich nicht. »Ich würde dich gern auf einen Kaffee einladen, um deine Zukunft mit dir zu besprechen. Was hältst du davon?«
Kaffee? All die in Aussicht gestellten Ausflüge waren stets nur leere Versprechungen gewesen. Ich hatte Verständnis dafür, da sie sehr beschäftigt war. Und irgendwann hatte ich dann begriffen, dass sie zwar gern über Pläne dieser Art sprach, sie jedoch nie in die Tat umsetzte. Wer verbrachte seine Freizeit schon mit Kindern, wenn er ständig beruflich mit ihnen befasst war?
»Klar«, antwortete ich.
»Sehr gut. Dann hole ich dich morgen um elf ab.« Sie klang begeistert.
»Äh …« Ich warf einen Blick auf die Heimleiterin, die aufgehört hatte zu tun, als sei sie mit Formularen beschäftigt, und mich mit finsterer Miene beobachtete.
»Das geht in Ordnung. Ich habe es abgeklärt«, beantwortete Ms. Asura meine unausgesprochene Frage.
Die Heimleiterin nickte, als habe sie mein Zögern ebenfalls wahrgenommen.
»Einverstanden.« Blieb mir denn etwas anderes übrig?
Ich hörte, wie Ms. Asura in die Hände klatschte. »Wunderbar. Das wird sicher ein Spaß.«
»Einverstanden«, wiederholte ich. Ihre Begeisterung schien echt zu sein.
»Dann also bis morgen.« Nachdem sie eingehängt hatte, legte ich rasch den Hörer weg.
»Für jede Minute, die du weg bist, erwarte ich zwei Minuten Sonderarbeit von dir«, drohte die Heimleiterin.
»Ja, Ma’am.« Eher zehn.
»Und das sind die Dinge, die du vor deinem Ausflug noch erledigen musst.« Sie überreichte mir eine Liste sinnloser Aufgaben.
Ich warf einen Blick auf den Aktenschrank hinter ihr und wünschte, ich hätte den Mut für einen weiteren Versuch gehabt, an meine Akte heranzukommen.
»Verschwinde!«, brüllte sie. Mitten auf ihrer Stirn pochte eine Ader.
Ich hastete aus dem Zimmer, wo Nicole mich in der Dunkelheit erwartete.
»Was ist los?« Sie sprach leise und ging dicht neben mir.
»Ms. Asura lädt mich morgen auf einen Kaffee ein.«
Die Bestürzung stand Nicole ins Gesicht geschrieben. »Wirklich?«
»Ich versuche, dir etwas mitzubringen.«
»Nein, das ist nicht so wichtig. Aber sei vorsichtig, okay? Ich habe so ein ungutes Gefühl.«
Ich wollte nicht, dass sie sich ständig mit Sorgen zermürbte. »In einem Café wird mir schon nichts passieren.«
»Mag sein, doch pass auf, was du sagst.« Ihr Tonfall war gleichzeitig zögerlich und fordernd.
»Sie will mit mir über Zukunftspläne sprechen.« Was für Pläne? Was für eine Zukunft?
»Vielleicht. Aber es gefällt mir trotzdem nicht. Hat sie dich je irgendwohin eingeladen?«
»Nein.« Ich verstand Nicoles Aufregung nicht.
»Warum dann plötzlich jetzt?« Sie ließ nicht locker.
»Vielleicht weil ich sechzehn werde?«, gab ich gereizt zurück.
»Bist du sicher, dass das der Grund ist? Vielleicht solltest du mal in die Akten schauen.«
»Wie?« Das wollte ich wirklich leidenschaftlich gern.
»Ich helfe dir …«
»Genug. Ich kann jetzt nicht darüber nachdenken.« Ich zuckte die Achseln. »Morgen kommen drei Neue.«
»Alt oder jung?«
»Gäste.« Alt.
Nicole gestattete mir zwar, das Thema zu wechseln, ihre traurige, bedrückte Stimmung hing dennoch zwischen uns in der Luft, so dass man sie fast mit Händen greifen konnte.
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Kapitel 18
T ens und ich besuchten Rumi in seinem Atelier, weil wir mit ihm über die Papiere in der Schachtel sprechen wollten. Die Zeichnungen waren zwar nicht schwer zu deuten, doch mit den Texten war es eine andere Sache.
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