Meridian - Flüsternde Seelen
zusammen und wollte die Flucht ergreifen. Hochgewachsen, mindestens dreißig solide Zentimeter größer als ich. Dichte blonde Haarsträhnen waren ihr aus dem Zopf gerutscht, der ihr über den Rücken hing. Bräunliche Augen, in denen sich Panik, Trauer und noch etwas abzeichneten, das ich nicht einordnen konnte. Obwohl sie vor uns zurückwich, bemerkte ich trotzdem ihre dunklen Augenringe und die Striemen an ihren Unterarmen.
Ich brauchte Rumis Beschreibung nicht, um zu wissen, dass das unsere Fenestra war. Für mich bestand kein Zweifel. Sofort spürte ich eine Verwandtschaft, die meine Seele so anrührte, wie es bis jetzt nur meiner Tante gelungen war. Es fühlte sich an, als wäre meinem Herzen ein Stück zurückgegeben worden. Als wäre ich aus einem wirklich tiefen Schlaf erwacht, strotzte nun vor Energie und wäre zu allem bereit.
»Bitte bleib«, sagte Tens. »Bist du …«
»Juliet?«, beendete ich den Satz und schüttelte mich, um den Nebel zu vertreiben.
Sie erbleichte, und ihre Augen weiteten sich vor Furcht.
Flehend streckte ich die Hände aus. »Wir sind Freunde. Wir tun dir nichts.«
»Wir wollen nur mit dir reden.« Tens half mir, mich auf einen umgestürzten Baumstamm zu setzen. Wir hielten Abstand, um sie nicht zu erschrecken.
Sie ging zwar nicht, kam aber auch nicht näher. »Ich … ich … ich …«
Anscheinend war sie nicht in der Lage, Wörter zu formen oder Sätze zu bilden. Ich fragte mich, ob sie nicht sprechen konnte oder ob es die Angst war, die sie verstummen ließ. Aber das spielte eigentlich keine Rolle. Es gab einige Dinge, die sie wissen und hören musste. Und zwar schnell, bevor sie davonlief.
Also beherrschte ich meine Ungeduld und Aufregung und versuchte, ruhig und gelassen zu klingen. »Ich heiße Meridian. Das ist Tens.«
Mein Gott, wie fange ich es bloß an?
In meinen Ohren machte es
plopp,
als stiegen wir einen Berg hinauf oder zu schnell hinunter.
Sie entfernte sich stolpernd ein paar Schritte, war aber noch nah genug, dass ich in Zimmerlautstärke sprechen konnte. »Bitte, du brauchst keine Angst zu haben. Wir haben dich gesucht.«
»Wer seid ihr?« Wieder wich sie fluchtbereit ein paar Schritte zurück.
»Wir wohnen im
Helios
in Carmel. Wir können dir helfen. Wir sind sogar geschickt worden, um dir zu helfen. Geht es dir gut?«
Sie lachte schrill auf, beantwortete allerdings nicht die Frage. Stattdessen wich sie wieder einen Schritt zurück.
»Wir werden öfter herkommen. Wenn du mit uns reden willst, sind wir für dich da. Oder du besuchst uns im
Helios.
Wir helfen dir. Wir kennen die Antworten.« Allmählich hörte man mir die Verzweiflung an. Keine Ahnung, womit ich gerechnet hatte, doch ich hatte gedacht, sie würde mich sehen, mich erkennen, und dann würden wir Freundinnen sein. Eine Schwachsinnsidee.
Im nächsten Moment rannte sie davon, dass ihr Zopf zwischen den Schulterblättern hüpfte.
»Prima gelaufen«, stellte Tens das Offensichtliche fest.
»Und was zum Teufel tun wir jetzt?«, fragte ich und lehnte mich an ihn.
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Kapitel 16
S päter versuchte ich, unsere Beziehung zu kitten. »Tens, kann ich dich auch spüren? Funktioniert es in beide Richtungen?«
»Weiß nicht.« Er zuckte mit den Schultern.
»Und wie machst du das? Ich will es auch versuchen.« Ich folgte ihm und setzte mich neben ihn aufs Sofa.
»Es ist nicht, als würde ich einen Schalter umlegen oder irgendeinen Trick anwenden.« Mit einem Stöhnen lehnte er sich zurück und schlug die Hände vors Gesicht.
»Gut, aber spürst du mich die ganze Zeit über?«
»Ich habe dir doch schon erklärt, dass ich nicht deine Gedanken lesen kann.«
»Du hast mir erklärt, dass es die Gefühle sind. Oder wichtige Dinge wie Gefahr. Aber aktualisieren sich die Daten, wenn sich etwas ändert? Ein emotionales RSS -Update sozusagen?«
»Was ist das?«
Manchmal vergaß ich, dass Tens nicht in derselben Populärkultur lebte wie die meisten Menschen. »Schon gut, du Technikgenie. So, wie ich es weiß, wenn du sauer, besorgt, glücklich oder entspannt bist? Funktioniert es so?«
»Ja, aber woher weißt du das?«
»Wenn du dich ärgerst, wirst du laut – du schreist dann und sprichst nicht mehr in vollständigen Sätzen. Außerdem runzelst du zwischen den Augen die Stirn und kriegst tiefe Falten.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist Körpersprache. Du hast meine gelernt und orientierst dich an Hinweisen wie alle anderen. Woran hast du es gemerkt, wenn Sammy etwas zu schaffen gemacht
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