Meridian - Flüsternde Seelen
Die Geistersteine in den Fenstern und an den Regenrinnen fingen wieder an, kräftig zu leuchten, so dass die Leute im Atelier überrascht aufblickten. Nicht gerade ein unauffälliger Auftritt.
»Sind sie nicht magisch? Zwischen Glas und Licht besteht ein solches Zusammenspiel, eine Harmonie. Das sind die Hexenkugeln des siebzehnten Jahrhunderts«, sprang Rumi für uns in die Bresche und schob uns zu der Tür, die in seine Privatwohnung führte. »Sie reflektieren jeden verirrten Sonnenstrahl wie die Sonne selbst. Lassen Sie mich Ihnen von der Magie erzählen. Brauchen wir nicht alle ein wenig Magie in unserem Leben?«
Die Tür zu den Wohnräumen schloss sich hinter uns, während Rumi weiterredete und den gebannt lauschenden Kunden seine Werke anpries. Die Stereoanlage dudelte ein beliebtes Tanzlied, das Rumis Lieblingsstück zu sein schien.
Nach einiger Zeit kam er beschwingten Schritts herein. »Ach, das tut mir leid. Allerdings hast du wirklich eine verkaufsfördernde Wirkung. Ich bin ein Dutzend für anstehende Geburtstage, Bar-Mizwas und Geschenke zur Geburt eines Kindes losgeworden. Wie kann ich euch heute behilflich sein?«
»Wir wollten nicht stören.« Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und überlegte nicht zum ersten Mal, ob ich mich dafür entschuldigen musste, dass ich ihm die Zeit stahl.
»Kein Problem.« Er ging zum Tisch. »Wie ich sehe, stoßen Mas Hinterlassenschaften auf euer Interesse.« Er beugte sich lächelnd über die Seiten, als seien lange verschollene Freunde endlich nach Hause gekommen. »Etwas zu trinken?«
»Gern«, antwortete ich. Tens nickte.
Rumi kochte sich einen Kaffee und schenkte uns mit Kohlensäure versetzten Saft in bunt gemusterte Gläser ein. Beim Trinken glaubte man, einen Regenbogen zu schlucken. »Habt ihr etwas Interessantes gefunden?«
Ich griff nach einem kleinen, in knittriges Leder gebundenen Skizzenbuch. »Kannst du uns diese Texte übersetzen?«
Er nickte und trank nachdenklich einen Schluck. »Das meiste schon. Einiges … verstehe ich selbst nicht gut genug, um euch zu sagen, was es auf Englisch heißt.«
»Weißt du, wer das alles geschrieben hat?«
»Nicht bei allen Texten. Einige sind von meiner Nain.« Er blätterte die Seiten durch und wies auf die Initialen an der unteren Ecke. »Das sind ihre. Und das da ist die Handschrift meines Dads. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass er zeichnen konnte. Deshalb glaube ich, dass er seine Notizen auf die fertigen Zeichnungen gemacht hat. Wie ich schon sagte, musste ich die Einzelteile zusammensetzen.«
»Jede Information ist hilfreich«, versicherte ihm Tens.
Rumi und Tens wechselten einen kurzen Blick, den ich nicht verstand. »Lasst mir eine Minute, die Sachen noch einmal zu lesen, damit ich euch auch richtig Auskunft gebe. Wo habe ich nur das Papier hingelegt?« Er klopfte seine Taschen ab und sah sich verdattert um.
Ich entdeckte Block und Stift zwischen den Sofapolstern und reichte sie ihm.
Er notierte sich Wörter auf die leeren Seiten. Murmelte vor sich hin. Schüttelte den Kopf. Nickte.
Währenddessen warteten Tens und ich schweigend ab. Ich musste den Drang unterdrücken, mit den Absätzen oder den Fingern zu klopfen.
Endlich ergriff Rumi das Wort. »Wir wollen hier anfangen.« Er sortierte einen Stapel heraus und wedelte mit der Hand. »Diese Papiere weisen alle darauf hin, dass der Gute Tod am Tag der Sommersonnenwende erscheint. Dann treten die jungen Frauen an den Freudenfeuern vor, um sich salben zu lassen. Und die Babys, die mit der Gabe geboren wurden, stoßen ihren ersten Schrei aus. Vermutlich heißt das, dass sie zur Sommersonnenwende das Licht der Welt erblicken. Es ist ein großes Fest. Ahnen kehren zurück. Freudenfeuer und der Gute Tod werden hier erwähnt.« Er tippte auf die Texte.
Ich sah Tens an. Sommer? Das ergab keinen Sinn. Hätte es nicht Winter sein müssen, wenn sie Fenestrae waren?
»Bist du sicher, dass hier vom Sommer die Rede ist?«, erkundigte sich Tens.
»Oder vielleicht von einer anderen Jahreszeit?«, ergänzte ich.
»Eindeutig Sommer. Den Sommer kann man nicht so leicht mit dem Herbst oder dem Frühling verwechseln.«
»Winter?« Meine Stimme zitterte.
Er blieb hartnäckig. »Winter ganz bestimmt nicht.«
»Und hier steht, dass die Babys mit der Gabe dann geboren werden?« Tens hielt eine Seite hoch, als würde es ihm die Antwort liefern, sie selbst zu lesen.
»Hmmm. Warum nur habe ich das Gefühl, dass ihr ein ganz bestimmtes Ergebnis erwartet
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