Meridian - Flüsternde Seelen
habt?« Rumi rieb sich die Augen und trank noch einen Schluck Kaffee, um uns die Zeit zu geben, über seine Frage nachzudenken.
Tens lächelte ihm zu. Ein kaum merkliches Anheben der Lippen.
»Es ist der einundzwanzigste Dezember«, überlegte ich. »Die Wintertagundnachtgleiche.« Fenestrae wurden immer zur Wintertagundnachtgleiche geboren.
»Was ist damit?« Rumi tippe mir auf die Schulter.
»Was … Habe ich laut gesprochen?«
»Nein, natürlich nicht.« Offenbar las Rumi etwas in meiner Miene, denn er beschloss, dass er noch etwas zu trinken brauchte.
Tens beugte sich vor. »Was, wenn es nicht nur im Dezember stattfindet, Supergirl? Es könnte ja noch mehr Familienstammbäume geben. Deine Familie hat die Wintertagundnachtgleiche gewählt. Aber ist es nicht plausibel, dass in anderen Fällen auch ein anderes Datum zutrifft?«
»Was würde das beweisen?«, entgegnete ich.
»Keine Ahnung.« Tens lehnte sich zurück. »Hey, Rumi?«
»Ja?« Rumi drehte das Wasser ab und lehnte sich an die Arbeitsfläche. Sein Gesichtsausdruck war offen und ruhig.
Tens kippelte mit dem Stuhl so weit nach hinten, dass er in Schieflage zu geraten drohte. In diesem Moment sah er aus wie ein Schuljunge, der nachsitzen musste, weil er im Unterricht mit Kügelchen aus Papier und Spucke geworfen hatte. »Gibt es bei euch in der Familie ein Geburtsdatum, das häufig vorkommt?«
»Zum Beispiel, ob wir alle um die Sommersonnenwende herum Geburtstag haben?« Rumi schmunzelte. »Du vergisst, dass ich ein gerissener alter Mann bin. Ich habe bereits darüber nachgedacht. Wir waren fast alle Juni-Babys. Aber wir haben nicht alle unseren Geburtstag so gefeiert, wie es heute üblich ist. Es war auch nicht zwingend zur Sommersonnenwende. Lasst mich mal nachschauen.« Er ging zu einem Stehpult und schlug einen gewaltigen Wälzer auf. »Die Familienbibel. Die Geburtsdaten, Hochzeiten und Todesfälle von Generationen sind hier verzeichnet.«
Das Buch wog sicherlich zwanzig Kilo, doch er hob es an, als wäre es so leicht wie ein Taschentuch, und legte es zwischen Tens und mich auf den Tisch. »Schaut.«
Wir beugten uns alle über das antike Pergament und versuchten, die in Baumform angeordneten Namen und Zahlen zu entziffern.
»Ich werde zu alt, um das zu lesen. Das könnt ihr ohne mich erledigen.« Rumi setzte sich an das Kopfende des Tisches.
Tens studierte die eine Seite, ich die andere. »Ich zähle sechs«, verkündete er.
»Und ich sieben«, erwiderte ich.
»Außerdem noch viele kurz davor oder danach. Und auch die Hochzeiten finden am Einundzwanzigsten statt.«
Rumi stieß einen Pfiff aus. »Interessant. Das scheint eine überdurchschnittlich hohe Zahl zu sein. Offenbar wurden viele Kinder zur Erntezeit gezeugt.« Er tippte auf ein anderes kleines schwarzes Buch. »Das solltet ihr auch kennen. Vielleicht ist es ja wichtig, vielleicht aber auch nicht. Es gehörte dem Bruder meines Vaters, zumindest wenn man dem Verfasser glauben darf. Ich habe ihn nie kennengelernt. Ich wusste nicht einmal etwas von seiner Existenz, bis Ma starb und ich mich durch das Material gelesen habe.«
»Oh, aber es könnte alle möglichen Erklärungen dafür geben, warum sie es dir nicht erzählt haben …«
»Das ist der Punkt, über den ich wirklich stolpere. Ich habe von Tanten und Onkeln gehört, die als Babys starben oder sogar im zwanzigsten Jahrhundert als Verbrecher in die britischen Kolonien geschickt wurden …«
»So etwas ist im zwanzigsten Jahrhundert noch passiert?«
»Ja, es hörte erst gegen Mitte des Jahrhunderts oder auch später auf. Die Armen und die Straftäter wurden im Namen der Königin deportiert. Ich kannte selbst die Namen derer, die in Wirtshausschlägereien oder im Krieg umgekommen sind. Einer hatte sogar Lepra.« Er zählte die Todesfälle an den Fingern ab.
»Eine große Familie?«
Er stimmte zu. »Ja. Aber Familiengeschichten sind Familiengeschichten und werden bei jeder Zusammenkunft bei Whisky oder Kuchen wieder aufs Tapet gebracht. Da ich glaubte, dass ich es vergessen haben könnte, habe ich meine Schwester gefragt, die sich Fakten und Zahlen gut merken kann. Auch sie hatte noch nie im Leben von diesem Jungen gehört. Also habe ich mich bei dem Rest meiner noch lebenden Geschwister erkundigt.«
»Und?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Niemand wusste, dass es ihn je gegeben hat.«
»Und was steht in dem Buch?«, fragte ich.
»Keine Ahnung, ob er mondsüchtig war oder sich das alles nur ausgedacht hat. Es ist schwer
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