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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Jede Fenestra muss einen Weg finden, das Erlebte zu verarbeiten. Einige kochen, andere malen, ich nähe Steppdecken.«
    »Erinnerungen?«
    »Jede Seele lässt Bruchstücke von Erinnerungen bei uns zurück. Dinge, die ihr wichtig gewesen sind.«
    »Deshalb also!«, rief ich aus und ließ die Stoffreste fallen.
    »Was meinst du, mein Kind?«
    »Celia liebte Schokokekse mit weißer Füllung und ihre Cheerleader-Barbie. Ihr Meerschweinchen hieß Shrek. Ich dachte, ich hätte das alles nur erfunden.«
    »Nein, mein Kind. Ich wette, wenn du darauf geachtet hättest, wären dir auch bei den Tieren Einzelheiten aufgefallen. Das elektrische Surren der Moskitos. Der Geruch des Frühlings. Der Geschmack frischen Wassers.«
    Ich nickte, denn ich erinnerte mich an Erfahrungen, die für mich keinen Sinn ergeben hatten. Als ich die Nadel einfädeln wollte und beim fünften Versuch scheiterte, nahm meine Tante sie mir ab.
    »Irgendwann wird es überwältigend. Zu viel. Also verwandle ich jedes Leben, das durch mich hindurchgeht, in eine Geschichte aus Stoff.«
    Ich betrachtete die Steppdeckenstapel, die überall herumlagen. »So viele?« Es mussten Hunderte, nein, Tausende von Geschichten sein.
    »Mit der Zeit kommt einiges zusammen.«
    Ich versuchte, wie angewiesen, das untere Ende des Fadens zu verknoten, aber es war hoffnungslos. Die Tante tätschelte mir das Bein. »Du schaffst das schon. Es ist alles eine Frage der Übung.«
    »Wie bei allen anderen Dingen?«
    »Ja.« Plötzlich wurde sie kreidebleich im Gesicht und fuhr ruckartig zur Tür herum.
    Custos stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus.
    Ich erstarrte. »Was ist?«
    Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf.
    Mit klopfendem Herzen wartete ich ab. Furcht lag in der Luft. Und noch etwas anderes.
    Custos schlich, Kopf und Rute gesenkt, zur Tür und verharrte dort.
    Wie Beutetiere in der Falle saßen wir reglos da. Es konnten Sekunden, aber auch Stunden gewesen sein. Endlich erhob sich Tante Merry. »Alles in Ordnung.«
    »Was ist denn da los?«, fragte ich und leckte mir über die trockenen Lippen.
    Sie legte ihre Näharbeit weg und nahm eine Schrotflinte vom Haken an der Wand.
    »Was wird hier gespielt?«, rief ich entsetzt aus. Eine kleine alte Dame mit einer Schrotflinte in der Hand gab nämlich ein ziemlich merkwürdiges Bild ab.
    »Bleib hier«, befahl sie.
    Ich folgte ihr. »Nein.«
    Sie spähte aus dem Fenster neben der Eingangstür.
    »Wo seid ihr denn alle?«, hörten wir plötzlich Tens’ Stimme. Er knallte die Hintertür zu und polterte durch die Küche.
    Wir beide drehten uns gleichzeitig um, als er den Flur entlangeilte.
    »Was ist passiert?« Er lief auf meine Tante zu und riss ihr die Flinte aus den zitternden Händen.
    »Keine Ahnung«, antwortete ich.
    »Hast du etwas gesehen?«, erkundigte sich die Tante bei ihm.
    »Nein, ich bin von hinten durch den Wald gekommen. Was soll das?«
    »Jemand war hier«, erwiderte sie.
    »Wer?«
    »Es fühlte sich an wie eine Fenestra, aber mit bösen Absichten.«
    »Die Aternocti?«
    »Was?«, stieß ich hervor. Ich hatte nichts gehört.
    »Ich weiß nicht. Ich war noch nie mit einem von ihnen in einem Raum und kann nicht sagen, woran man ihre Energie erkennt.«
    »Wann?« Tens schob uns von der Tür weg, öffnete sie einen Spalt weit und befahl Custos, sitzen zu bleiben. Obwohl seine Schultern mir den Blick versperrten, erschrak ich so über seinen Tonfall, dass ich mich an ihm vorbeidrängte, um etwas sehen zu können.
    In der Tür steckte ein Pfeil mit brennendem Ende. Auf der Schwelle lag eine geköpfte, ausgeweidete Tigerkatze. Die Blutlache rings um ihre Leiche gerann allmählich. Aus ihrem Bauch quollen die Überreste von etwas, bei dem es sich eindeutig um Kätzchen handelte.
    Beim Anblick des Gemetzels wurde ich von Brechreiz ergriffen. Ich stolperte hinaus und die Stufen hinunter. Das Frühstück kam mir hoch, als ich neben dem Haus im Schnee auf die Knie sank.
    »Scheiße.« Tens ging die Stufe hinunter, um das Blutbad in Augenschein zu nehmen. »Scheiße.« Er trat gegen die Stufen und die Reifen des Landrover.
    Tante Merry lehnte sich an ihn. »Ach, du meine Güte, nicht schon wieder.«
    Ich griff mir eine Handvoll sauberen Schnee, rieb mir damit das Gesicht ab und genoss das kalte, frische Gefühl.
    Die Tante kam zu mir hinüber und reichte mir ein Taschentuch. »Wir wollen hineingehen und Tee kochen.«
    »Aber …«
    »Ich mache sauber. Geht nur.« Tens schubste uns mehr oder weniger ins Haus und wich meinem

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