Meridian
machte auf. »Ist es in Ordnung, wenn ich ein Bad nehme?«
»Selbstverständlich. Früher habe ich oft stundenlang in der Wanne gelegen. Es ist eine Art kleiner Urlaub, fast so gut wie ein Besuch in der Thermalquelle am Ende der Straße.« Lächelnd hielt sie mir einen Korb voller Flaschen hin. »Badesalz, Schaumbad und sonst noch alles Mögliche. Nimm dir einfach, was du willst.«
Ich bekam ein schlechtes Gewissen. »Kann ich etwas für dich tun?«
Wieder lächelte sie. »Nein, erhol dich nur.«
»Gut.«
Sie schloss die Tür.
Ich riss sie wieder auf. »Tante, wo ist Tens hin?«
Sie hielt inne, ohne sich umzudrehen. »Er erledigt etwas für mich.« Mit diesen Worten verschwand sie um die Ecke.
»Zu Fuß?«, fragte ich in den leeren Flur hinein. Dannzuckte ich mit den Achseln. Offenbar durfte ich nichts davon erfahren, was mir gar nicht schmeckte.
Ich soll doch lernen, Vertrauen zu schöpfen und zu tun, was mir gesagt wird. Und dennoch verschweigt man mir etwas. Entweder gehöre ich nun dazu oder nicht.
Nachdem Schaumbadduft das Badezimmer erfüllte, zog ich den Pyjama aus und steckte erst eine Zehe, dann den Fuß und zu guter Letzt das ganze Bein in die Wanne, bis ich bis zum Kinn im Wasser lag. Seifenblasen kitzelten meine Nase wie Schmetterlinge.
Ich ließ die Hände über meinen Körper gleiten und malte mir aus, wie es wohl sein mochte, einfach spontan liebkost zu werden. Sam war der Einzige in meiner Familie, der mich je, ohne zu zögern, angefasst hatte. Tränen quollen unter meinen Lidern hervor.
Was denkt Sammy gerade? Was hat man ihm erzählt? Dass seine Schwester sich in Luft aufgelöst hat? Glaubt er, dass ich ihn nicht mehr liebhabe? Wo sind sie?
Ich nahm die oberste Zeitschrift vom Stapel. Ich hatte zehn Kilo Zeitschriften quer durchs ganze Land geschleppt, in dem Wissen, dass Mom das hatte einpacken wollen, was mir ihrer Ansicht nach am meisten bedeutete. Mom hatte mein Interesse so gedeutet, dass ich Journalistin oder Redakteurin werden wollte. Sie verstand nicht, dass die Abbildungen auf diesen Hochglanzseiten für mich die Normalität verkörperten. Doch ganz gleich, wie viele solcher Zeitschriften ich auch las, die Welt der anderen entzog sich mir, und sie sah niemals aus wie meine. In den fröhlichen Weihnachtsszenen lagen nie tote Rentiere unter dem Baum, und es gab auch keine Fotos, auf denen im Schein bunter Lichterketten und bei Schneetreiben der Familienhund im Garten beerdigt wurde.
Ich hatte auch nie eine Freundin gehabt. Nicht, seit ich den Fehler gemacht hatte, Jillian die Wahrheit zu sagen, nachdem ihr Hamster beim Spielen in meinen Händen gestorben war. Ich hatte ihr erklärt, dass alles um mich herum starb. Offenbar hatte sie das sofort ihrer Mutter weitererzählt, denn von diesem Tag an hatte Jillian nie mehr Zeit für mich. Irgendwann gestand sie mir, sie wolle nicht, dass ich sie auch noch umbrachte.
Ich warf eine Zeitschrift nach der anderen an die Wand. Anders als früher konnten sie mich nicht mehr ablenken. Dann schloss ich die Augen und beschwor Tens in meinen Gedanken herauf. Ich erinnerte mich an das Gefühl, als er mich getragen hatte. Er vermittelte mir gleichzeitig Geborgenheit und Furcht und löste in mir den Wunsch aus, ihm alle meine dunklen Geheimnisse anzuvertrauen und danach so schnell wie möglich die Flucht zu ergreifen. Meine Lippen prickelten, als ich mir vorstellte, wie es wohl sein mochte, ihn zu küssen. Was hätte ich dafür gegeben, wenn er mir dieselbe Wärme und Liebe entgegengebracht hätte wie Custos.
Sehnte er sich ebenfalls nach einem Kuss von mir? Oder war ich für ihn nur die lästige, ständig schwächelnde Nichte der Tante? Mir graute entsetzlich vor ihrem bevorstehenden Tod.
Verzweifelt tauchte ich mit dem Kopf unter und hielt den Atem an.
Immer länger.
So lange, bis ich glaubte, die Lunge würde mir platzen. Ich brach an die Oberfläche und sog in großen Zügen Luft in meine brennende Lunge. Plötzlich fühlte sich die Wanne an wie ein Sarg. Ich nahm ein Stück Seife und einenRasierer und rasierte mir zum ersten Mal seit Wochen die Beine. Anschließend rubbelte ich mit einem Waschlappen meine Haut ab, bis sie rot und wund war. Für meine Haare benötigte ich eine Handvoll Shampoo. Es dauerte stets eine Ewigkeit, mein langes wunderschönes Haar zu waschen, ganz zu schweigen davon, es zu trocknen. Doch meine Mutter hatte mir streng verboten, es abzuschneiden. Allmählich wich die rote Tönung wieder dem natürlichen Dunkelbraun.
Weitere Kostenlose Bücher