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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Bauernhöfen. Als er erfuhr, dass ich versessen auf Süßes war, tauschte er Lebensmittel gegen Süßigkeiten ein, die damals Mangelware waren. Er schenkte mir Rosen und Sträuße aus Wildblumen. Das Leben. Und er pflegte mich, bis ich wieder auf den Beinen war. Er warzehn Jahre jünger als ich, damals ein ziemlicher Skandal. Aber Krieg ist Krieg, und, nun ja, wenn man ihn überlebt hat, besteht zwischen einem ein Band, das Sitte und Anstand nicht mehr durchtrennen können. Er sagte mir, dass er mich liebte, und bat mich, den Rest seines Lebens mit ihm zu verbringen, ihm beim Übergang zu helfen, wenn seine Zeit gekommen sei, und ihm zu erlauben, mich zu behüten und mich zu unterstützen, so gut er könne.«
    Ich fragte mich, ob ich je so viel Liebe und Zuneigung erfahren würde. Oder ob ich die Kraft besaß, die heutige Entsprechung eines Konzentrationslagers zu betreten, um den dort gefangenen Seelen beizustehen.
    »Hast du dir je eine menschliche Leiche aus der Nähe angesehen?«, erkundigte sie sich.
    »Einen Menschen? Nein. Celia war meine erste Tote.«
    »Hmmm.« Sie ging weiter die Bildergalerie entlang bis zu dem Porträt eines kleinen Mädchens, einem kunstvollen Ölgemälde.
    »Ich war fünf, als es entstand. Das Stillsitzen war eine Tortur.« Das Bild stellte ein kleines Mädchen mit todernster, feierlicher und konzentrierter Miene dar. Ihr Blick war so durchdringend, dass ich ihn fast als Hitze auf meinem Gesicht spürte. Das Bild wirkte auf seltsame Weise lebendig und verströmte ein zielstrebiges Leuchten. Dunkle, schimmernde Locken umrahmten ein elfenbeinfarbenes Gesicht mit Augen, die das undurchdringliche Blau der Dämmerung im Sommer hatten.
    Tante Merry strich mit den Fingern über ein anderes, winziges Gemälde. »Deine Urgroßmutter war auf diesem Bild sieben Jahre älter als ich. Das ist sie.« Auch sie war von einem zarten Strahlen umgeben.
    Ich wünschte, meine Mutter hätte auch daran gedacht, mich porträtieren zu lassen. »Also bist du eigentlich meine Urgroßtante?«
    »Ja.«
    »Wie alt bist du denn?«
    »Einhundertundsechs. Alle Fenestrae leben so lange, wenn ihnen der Übergang gelingt. Mein Vater hat auch das hier gemalt.«
    »Wusste er Bescheid?«
    »Natürlich ahnte er, dass mich etwas von den anderen unterschied. Es wurde ihm klar, als meine Mutter mich während der Geburt meiner jüngsten Schwester zu sich rief. Ihre Mutter war eine Fenestra gewesen. Doch sie hatte es vor meinem Vater geheim gehalten, weil sie nicht wollte, dass ich als Hexe dastehe und unter Gerüchten und Anfeindungen zu leiden habe.«
    »Was geschah dann?«
    »Damals war Kindern die Anwesenheit in Geburtszimmern streng verboten. Aber mein Vater konnte ihr nie etwas abschlagen.«
    Ich hatte den Verdacht, das Ende der Geschichte zu kennen. »Sie starb?«
    »Hmm, ja. Sie war der erste Mensch, der wissentlich versuchte, durch mich hindurchzugehen. Ich war sechs. Doch wenn eine Seele ein Fenster kennt, macht es ihr die Sache leichter. Allerdings hätte sie mich dabei umgebracht. Als sie spürte, dass es mich überforderte, zog sie sich zurück. Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer es ihr gefallen sein muss. Und ich brauchte lange, um mich davon zu erholen. Noch wochenlang hatte ich entsetzliche Bauchschmerzen. Der Arzt, der drei Dörfer weiter wohnte, wolltemich operieren, aber mein Vater ließ ihn nicht an mich heran.«
    »Ist deine Schwester auch gestorben?«
    »Nein, Mama hat sie schnell und reibungslos zur Welt gebracht. Doch etwas in ihr ist gerissen, und die Blutungen wollten nicht mehr aufhören. Sie hielt meine Hand und ließ nicht mehr los. Dann bat sie mich, ihr das Gutenachtlied vorzusingen, das sie immer für mich sang. Ich hatte die zweite Strophe vergessen. Allerdings spielte das keine Rolle. Ich sang, als ob mein Leben davon abhinge. Immer wieder sang ich dieselbe Strophe. Die Hebamme säuberte meine Schwester und fuhr dann in die Stadt, um eine Krankenschwester zu holen. Mein Vater ist in jener Nacht zusammengebrochen und hat ihren Tod nie verwunden.«
    »Das tut mir leid.«
    Sie fuhr fort, als hätte sie mich nicht gehört. »Die Stimme meiner Mutter hallte in meinem Kopf wider und sagte mir, dass sie mich liebte und dass ich, ganz gleich, was auch geschehen würde, auf mich vertrauen müsse. Dann wurde ihre Hand schlaff. Ihr Blick wandte sich mir zu, aber ich wusste, dass sie gegangen war. Es ist so, als ob die Bettwäsche morgens nach dem Aufstehen noch warm ist – man ist noch da, liegt

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