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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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jedoch nicht mehr darin. Mama hatte das Tagebuch meiner ältesten Schwester vermacht, aber da ich die einzige Fenestra in der Familie war, habe ich es bekommen.«
    »Es tut mir leid.« Ein besserer Kommentar fiel mir nicht ein. Meine Eltern lebten – soweit ich wusste – wenigstens noch, wenn auch in einer anderen Stadt oder in einem anderen Bundesstaat.
    »Das braucht es nicht. Der Tod ist es, der das Leben erstermöglicht. Er schafft den Ausgleich, Meridian. Es muss nämlich stets ein Gleichgewicht herrschen. Du kannst spüren, ob eine Seele dich braucht, bevor sie selbst es ahnt. Und so kannst du dich auf sie vorbereiten, anstatt dich von ihr überrumpeln zu lassen.«
    »Es geht einem also in Fleisch und Blut über?«
    »Es wird wie Atmen oder Schlucken. Du wirst deine Achtsamkeit bewusst wahrnehmen. So kannst du locker bleiben und einfach leben.«
    »Wozu ist dieses Fenster überhaupt nötig?«
    »Es ist Teil des Lernprozesses, damit du verstehst, wie es sich anfühlt und wie es funktioniert. Manchmal wirst du dieses Fenster schließen wollen. Du musst dich schützen, wenn du zu krank oder zu angreifbar bist.«
    Wenn ich mich schütze, kann ich dann ein ganz normaler Mensch sein und zu meiner Familie zurückkehren?
»Gibt es eine Mög lichkeit, mich so zu schützen, dass ich ein normaler Mensch werde?«
    »Du kannst ein nach außen hin normales Leben führen. Aber du wirst eine Fenestra bleiben. So ist das nun einmal.« Sie streichelte mir das Haar. »Ist dieses Rot deine natürliche Farbe?«
    »Was? Nein, eigentlich ist es braun. Ein langweiliges Schmutzigbraun.«
    »Also färbst du es, um wie ein Rotschopf oder eine Blondine zu wirken, richtig?«
    »Ja.«
    »Genauso funktioniert das mit dem Schutzschild. Es ist eine vorübergehende Tarnung.«
    »Werde ich meine Familie je wiedersehen?«
    »Das hoffe ich, mein Kind, doch ich kann dir nichts versprechen.Ich weiß, wie es ist, die Menschen zu vermissen, die man liebt. Mir geht es immer noch so, und ich wünschte, ich könnte es dir ersparen.« Wehmut und Sehnsucht zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab, als sie über das Foto von Charles strich.
    »Was ist aus ihm geworden?«
    Ihre Miene wurde traurig, und ihr Kinn zitterte. »Er ist gestorben.«
    Da steckte sicher noch mehr dahinter, auch wenn ich zögerte, die Frage auszusprechen. »Warst du … ?«
    »Ich war nicht dabei, weil ich auf die Toilette musste. Nur einen Moment bin ich von seiner Seite gewichen. Nur einen einzigen Moment.« Sie umfasste meine Hand.
    »Ich bin sicher …« Ich verstummte, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. »Lässt sich da noch etwas tun?«
    Ihr Flüstern war so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. »Ich weiß nicht.«
    War Charles in den Himmel gekommen oder wiedergeboren worden? Oder, noch schlimmer, war er gar in der Hölle ge landet?
    »Hol deinen Mantel«, sagte sie.
    »Warum?«
    »Kannst du Auto fahren?«
    »Ich bin dabei, es zu lernen.«
    »Gut, dann kannst du jetzt üben.«
    »Wo fahren wir hin?«
    »Wir besuchen meine Freundin Winnie.«
    »Ich dachte, sie wäre gestorben.«
    »Das ist sie auch.«

Kapitel 14
     
     
    Bestimmt hätte nicht einmal eine Schnecke Probleme gehabt, uns auf dem Weg zu Winnies Haus zu überholen, aber wenigstens kamen wir heil an.
    »Und was wollen wir hier?« Mein Herz pochte heftig, während die Tante an die Tür klopfte.
    »Es ist Winnies Totenwache.«
    »Warum liegt sie nicht in einem Bestattungsinstitut?«
    Die Tür ging auf, und eine pummelige Frau mittleren Alters bat uns herein. Ihr hochtoupiertes Haar war so aufgebauscht und rund wie der Rest ihrer fülligen Gestalt. »Kommt rein, kommt rein. Du musst Meridian sein. Ich bin Sheila, eine von Winnies Töchtern. Vermutlich wollt ihr Mutter die letzte Ehre erweisen.« Während sie uns aus den Mänteln half, redete sie weiter wie ein Wasserfall. Ich hatte mit weinenden Menschen, schwarzer Kleidung und Orgelmusik gerechnet. Doch wie sich herausstellte, wurde angeregt ge plaudert, und der Duft von Truthahn und Schinken hing in der Luft. »Mama liegt gleich hinter dieser Tür im Wohnzimmer vor dem Weihnachtsbaum, wie sie es sich gewünscht hat.«
    Tante Merry fasste mich am Ellbogen. »Winne ist in ihrem Bett gestorben«, raunte sie. »Aber sie wollte das Weihnachtsfestnicht verpassen. Also haben sie ihr versprochen, sie zu waschen und anzukleiden und sie dort aufzubahren.«
    So bekam ich meine erste Leiche, und noch dazu vor einem Weihnachtsbaum, zu Gesicht. Am Baum funkelten bunte

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