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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Lämpchen, und Zuckerstangen hingen an allen Zweigen. Ein fremdartiger Hauch stieg mir in die Nase, und ich fragte mich, ob Tote so rasch zu riechen begannen.
    »Mama wird morgen beerdigt, und zwar unter der Eiche neben Papa. Ich lasse euch jetzt mit ihr allein.« Sheila schloss die Tür hinter uns, so dass meine Tante und ich mit Winnies sterblicher Hülle zurückblieben.
    »Was genau wollen wir hier?« Ich versuchte, Winnie nicht anzustarren, weil es mir unhöflich erschien.
    »Sieh sie dir an, Meridian. Betrachte ihr Gesicht.«
    Widerwillig ließ ich den Blick über Winnies eingefallene Wangen schweifen. Ihre Haut war gelblich grau. Sie war ungeschminkt und trug ein nagelneues, aber altmodisches Nachthemd aus Flanell. »Genug?«
    »Was siehst du?«
    »Äh …«
    »Schau die Fotos auf dem Klavier da drüben an.« Sie wies auf den Flügel in der Ecke. »Hol das, das ganz am Rand steht.«
    Ich griff nach dem Foto und brachte es ihr. »Ist sie das?« Die Frau auf dem Foto erinnerte in nichts an die, die da vor uns lag.
    »Ja. Sie sieht dem Bild überhaupt nicht mehr ähnlich, richtig?«
    »Irgendwie nicht.«
    »Winnie ist nicht mehr da. Sie befindet sich nicht längerin ihrem Körper. Das, was sie zum Leuchten, Lachen und Weinen brachte, ihre lebhaften Gefühle, ihr Talent fürs Klavierspielen, ihr Sinn für Humor, alles ist fort. Übrig bleibt nur eine Hülle. Wenn man jemanden vor seinem Tod kannte, erscheint er einem anschließend ganz anders.«
    »Oh. Aber werden die Toten denn nicht geschminkt oder so?«
    »Es ist ein gewaltiger Geschäftszweig, Verstorbene so aussehen zu lassen, wie sie früher gewesen sind, ganz gleich, wodurch sie ihr Leben verloren haben. Du kannst dir gar nicht vorstellen, auf wie vielen Beerdigungen ich war, wo die Leute flüsterten, die Leiche mache einen großartigen Eindruck, obwohl das gar nicht stimmte. Am liebsten hätte ich losgeschrien und die Angehörigen geschüttelt, weil sie dem Toten so etwas angetan hatten.«
    Die Tante legte Winnie die Handfläche an die Wange. »Fass sie an.«
    Ich wich zurück, weil ich das ungehörig fand. »Ich kann nicht …«
    »Viele Sterbende werden die Hände nach dir ausstrecken. Du musst wissen, wie der Tod sich anfühlt. Berühre sie.« Sanft legte sie meine Hand auf die von Winnie und beobachtete dabei mein Gesicht. »Und wie fühlt sie sich an?«
    »Tot?«
    »Genau. Es ist nichts mehr übrig. Das ist unsere Aufgabe, Meridian. Ich habe ihr beim Übergang geholfen. Sie wurde von ihrem Mann, ihren Eltern und außerdem zahlreichen Haustieren erwartet, weil sie immer Streuner bei sich aufnahm. Es ist nichts mehr von ihr da, weil sie ihren Körper zuLebzeiten aufgebraucht hat. Das ist das Ende, auf das wir alle hoffen und für das wir beten. Doch die meisten haben nicht so viel Glück.«
    Inzwischen hatte ich das Gruseln überwunden und empfand Winnie als Person, wenn auch in einer anderen Form.
    »Du wirst Menschen beim Sterben die Hand halten müssen. Für sie ist das ein Geschenk, aber es ist auch eines für dich. Als Fenestrae werden wir täglich daran erinnert, was auf dieser Welt wichtig ist.«
    »Ich verstehe.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja. Wenigstens ein bisschen besser.«
    »Gut. Dann wollen wir ein Stück Kuchen essen, bevor wir gehen. Sheila kann mit selbstgemachtem Teig und Gefrierobst wahre Wunder vollbringen.« Die Tante umarmte mich kichernd. »Ihren Rhabarbercremekuchen mag ich besonders gern.«
    »Ich habe noch nie Rhabarber gegessen.«
    »Dann musst du ihn kosten. Du schlägst dich wacker, Kleines. Ich weiß, dass es nicht leicht ist.«
     
    Am nächsten Morgen bereitete ich, in der Annahme, dass Tens gleich erscheinen würde, ein leichtes Frühstück für uns zu. Als er sich nicht blicken ließ, begann ich mir Sorgen zu machen. Tante Merry nickte beim Nähen immer wieder ein. Nach ein paar Stichen fielen ihr die Augen zu, und das Kinn sank ihr auf die Brust, bis sie hochschreckte.
    »Wo ist Tens?«, erkundigte ich mich.
    »Er muss ein paar Dinge erledigen. Bald kommt er zurück.«
    Ich legte die Zeitschrift weg und beobachtete sie beim Nähen. Ihre Finger hantierten geschickt mit Faden und Stoff. »Bringst du mir das Steppen bei?«, fragte ich.
    Sie lächelte erfreut. »Mit Vergnügen.« Sie klopfte neben sich auf das Sofa und wuchtete mir einen Korb voller Stoffreste auf den Schoß. »Such dir zwei davon aus.« Aus einem anderen Korb förderte sie Nadel und Faden zutage. »Ich nähe Steppdecken, um meine Erinnerungen zu bereinigen.

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