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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Monate?«
    Tens runzelte die Stirn und leerte wortlos seine Tasse.
    »Komm schon.« Ich packte ihn am Unterarm. »Raus mit der Sprache. Wie lange?«
    »Tage. Eine Woche, wenn wir Glück haben.«
    »Was ist mit einer ärztlichen Behandlung? Müsste sie nicht eigentlich im Krankenhaus liegen?« Es war schrecklich, so ohnmächtig zu sein.
    »Sie hat mir das Versprechen abgenommen, sie nicht in einem Krankenhaus sterben zu lassen. Meridian, sie ist einhundertundsechs Jahre alt. Wie lange, glaubst du, könnten sie sie noch am Leben erhalten?«
    »Das ist ganz schön brutal.«
    »Findest du, dass ich mich falsch verhalte?«
    Ich schluckte. Tränen traten mir in die Augen. Eine davon kullerte mir die Wange hinab. »Du verlangst von mir, dass ich …«
    »Nein, tue ich nicht.« Tens kniete sich vor mich hin und wischte mir die Träne ab. »Wenn du sie zu einem Arzt schleppen würdest, könnte der vielleicht dafür sorgen, dass sie weniger leidet. Aber Fenestrae werden nun einmal nicht älter als einhundertundsechs. Das ist eine Tatsache. Und sie möchte hier in diesem Haus sterben. Sie ist nicht senil, Meridian, sondern weiß genau, was sie will. Wir haben die Möglichkeit, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Auch wenn es bedeutet, dass es für dich in mancherlei Hinsicht schwieriger wird. Das verstehe ich.« Offenbar selbst erschrocken über seine lange Ansprache, hielt er inne. »Können wir das Thema jetzt abschließen?«
    Ich nickte, weil ich ihn nicht weiter quälen wollte.
    »Soll ich dir ein Brot schmieren?«, fragte ich, obwohl mir der Appetit gründlich vergangen war.
    »Nein danke, vielleicht später.«
    Ich zupfte an meinem Pulli herum und bemerkte, dass ich noch immer meinen Pyjama trug. »Ich … äh … gehe mich mal anziehen.«
    Er brummte etwas. Sein Blick ruhte auf dem Tagebuch, das ich auf dem Tisch vergessen hatte.
    »Ich habe die Aternocti nachgeschlagen, in der Hoffnung …«
    »Wenn deine Tante kein Gegenmittel kennt, gibt es vermutlich auch keines.«
    »Oh.«
    »Ich schaue mal nach. Geh nur.«
    »Ich kann auch bleiben …«
    »Geh!« Zorn schwang in dieser einen Silbe mit.
    Ich hastete die Stufen hinauf. Dabei hätte ich schwören können, dass ich von einem Augenpaar beobachtet wurde.

     
     
 
     
    Räucherwürste und eine fröhliche Liebesnacht. Bier und närrische Streiche. Offenherzige Mädchen und Kneipenschlägereien. Das ist die Summe der Erfahrungen, die meine Seelen im Leben gemacht haben. Weshalb nur ziehe ich all die ungehobelten Taugenichtse an? Warum kann nicht endlich einmal einer darunter sein, der die Oper und seine Mutter liebt?
     
    Lucinda Myer, 1702–1808

Kapitel 15
     
     
    Vor meinem Schlafzimmerfenster saß eine Krähe, die unablässig krächzte. Ich trat näher heran und starrte auf das Knopfauge, das sich auf mich richtete. Obwohl ich damit rechnete, dass der Vogel jeden Moment tot vom Baum fallen würde, schrie er nur immer weiter und hüpfte auf den Ästen hin und her.
    Im nächsten Moment bemerkte ich, dass sich auf dem Feld unter mir etwas bewegte. Ich drückte die Nase an der Scheibe platt, um besser sehen zu können.
    Es war Tens, auf Schneeschuhen und mit einem riesigen Wanderrucksack auf dem Rücken. Die Außentaschen des Rucksacks waren ausgebeult, und außerdem hatte er einige Pakete daran befestigt. Das Ganze brachte sicher zwischen vierzig und fünfzig Kilo auf die Waage. Kurz darauf war er verschwunden. Offenbar hatte er etwas sehr Wichtiges zu erledigen, da er uns so bald wieder allein ließ. Insbesondere wenn man sein schlechtes Gewissen von vorhin bedachte.
    Custos trottete schwanzwedelnd neben ihm her zum Rand des Waldes. Doch dann machte sie plötzlich kehrt und kam zurück zum Haus.
Wo will er hin? Was schleppt er da in seinem Rucksack herum?
    Ich suchte saubere Sachen heraus, griff nach dem StapelModezeitschriften, die Mom für mich eingepackt hatte, und ging den Flur hinunter. Ich hoffte, die niederdrückende Wirklichkeit durch ein Bad in der Wanne mit den Löwenfüßen verscheuchen zu können, wie ich sie bis jetzt nur aus Filmen kannte. Meine Brust war so zugeschnürt, dass ich kaum richtig Luft bekam. Anonyme Anrufe waren etwas Beängstigendes, doch ein wehrloses Tier auszuweiden konnte nur die Tat eines Verrückten sein.
    Mit einem Seufzer öffnete ich den alten Frisiertisch in der Hoffnung, Badesalz oder ein Schaumbad zu finden. Aber Fehlanzeige.
    Als es kräftig an der Tür klopfte, zuckte ich zusammen. »Meridian? Ich bin es, deine Tante.«
    Ich

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