Merkels Tochter. Sonderausgabe.
niemand eindringen konnte.
Agnes sagte: «Da muss sich abends nur mal einer einschließen lassen. Was will Hein denn machen? Er kriegt ein paar aufs Maul und anschließend die Papiere. Und in seinem Alter kriegt er keinen neuen Job.»
Deshalb machte Irene sich zwangsläufig einige Gedanken, sah ihn im Geist bereits auf dem Flur des Sozialamtes sitzen, sah sich eines dieser Schreiben öffnen, in dem ihr mitgeteilt wurde, ihr Vater habe laufende Hilfe zum Lebensunterhalt beantragt, und sie möge nun ihre Einkünfte offen legen. So weit musste es doch nicht kommen.
Manchmal nahm sie sich vor, ihm einfach mal wie zufällig zu begegnen. Sein Dienst im Einkaufszentrum begann um acht Uhr abends, er musste etwas früher da sein. Die meisten Läden hatten bis um acht geöffnet. Da hätte sie ihm einmal als späte Kundin über den Weg laufen können. Oder sonntags, jeden zweiten Sonntag besuchte er Kurt und Agnes. Agnes hatte das angeordnet und Kurt dem Befehl Nachdruck verliehen, damit er wenigstens jedes zweite Wochenende für ein paar Stunden registrierte, dass er nicht völlig allein auf der Welt war. Bei Agnes und Kurt hätte sie jederzeit unangemeldet erscheinen können.
Aber sie tat es nicht und schämte sich oft dafür, weil es einfacher war, sich nicht um ihn zu kümmern. Bei all den anderen, die sich partout nicht helfen lassen wollten und am Ende auf der Straße oder der schiefen Bahn landeten, konnte sie zur Not noch wegsehen. Bei ihm hätte sie das nicht gekonnt, das wusste sie.
Als Gernot und sie vor einem Jahr geheiratet hatten, hatte sie ihn einladen wollen. Natürlich nicht zu der Feier, an der ihre Mutter, Friedel und Gernots Eltern teilnahmen, aber am Tag danach. Gemütlich und zwanglos im kleinen Kreis, mit Agnes und Kurt, die auch nicht zu der großen Feier eingeladen waren, weil ihre Mutter nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte.
Kurt sagte: «Erspar dir das, Irene. Es hat wirklich keinen Sinn. Er würde nicht kommen.»
Aber zur Beerdigung kam er. Niemand hatte damit gerechnet. Es war ein Schock für sie. Wie er da stand, so klein und verloren. Sie hatte ihn viel größer in Erinnerung und jünger natürlich. Agnes hatte gesagt, er habe sich sehr verändert, aber so sehr, das hatte sie nicht erwartet. Er war alt geworden, sah viel älter aus, als er tatsächlich war. Und nichts an ihm war mehr stark.
Sekundenlang schwebte ihr das verblasste Kinderfoto vor den Augen. Sie sah ihn als kleinen Jungen auf der Flucht aus Ostpreußen durch Eis und Schnee stolpern, weinend und frierend neben seiner toten Mutter sitzen, bis eine mitleidige Seele ihn mitzerrte. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme genommen und hatte in der ersten Verlegenheit nicht mehr für ihn als eine Einladung, die er gar nicht annehmen konnte. «Komm doch mit, Papa. Wir trinken noch einen Kaffee zusammen. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst. Es sind nicht viele Leute dabei.»
Nicht viele! Natürlich kamen nicht alle, die auf dem Friedhof waren, auch mit in das Restaurant. Dazu waren nur gut zwei Dutzend geladen, überwiegend Verwandtschaft von Friedel, ein paar Geschäftspartner und langjährige Klienten. Gernots Familie und Angehörige ihrer Mutter, Tante Karola, die bereits misstrauisch herüberäugte.
Dass er keinen Wert darauf legte, sich von dieser Gesellschaft anglotzen zu lassen, verstand sie. Da hätte er gar nicht wortlos den Kopf schütteln müssen. Doch einfach gehen lassen wollte sie ihn auch nicht wieder. Sie kramte in ihrer Handtasche und drückte ihm eine von den Visitenkarten in die Finger, die ihr Mann normalerweise seinen Kunden andrehte in der Hoffnung, dass sie ihn mit so einer Karte für ebenso wichtig hielten wie seinen Vater und Friedel. Sie hatte immer zwei oder drei davon bei sich, für Notfälle.
«Dann ein andermal, Papa, komm doch mal sonntags auf einen Kaffee vorbei, wenn du Zeit und Lust hast. Wir würden uns wirklich sehr freuen.»
Wir! So ein Quatsch! Er hatte doch gesehen, wie Gernot an ihrem Arm riss und auf sie einsprach. Den halben Abend stritt sie mit ihrem Mann darüber. Bis dahin hatten sie zwar hin und wieder Meinungsverschiedenheiten ausgetragen. Aber es hatte noch nie etwas gegeben, worüber sie richtig hätten streiten müssen.
«Du weißt ganz genau, dass dieser Mann nichts von dir wissen will», sagte Gernot. «Warum musst du dich ihm aufdrängen?»
«Weil er mein Vater ist.»
Das war für Gernot kein Argument. «Bist du sicher, dass er das weiß? Ich nicht, er hat sich
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