Merkels Tochter. Sonderausgabe.
war es wirklich vorbei. Und er dachte, für den Rest seines Lebens habe er nun seine Ruhe.
Auf dem Friedhof hielt er sich im Hintergrund, das war nicht schwer bei all den Trauergästen. Gut hundert Leute waren da. Da fiele einer mehr oder weniger gar nicht auf, sagte er sich, obwohl er sich ziemlich aus der Masse abhob in der fadenscheinigen schwarzen Hose und dem schlecht sitzenden Jackett, das er sich in aller Eile gekauft hatte. Aber von der noblen Gesellschaft kannte ihn ja keiner, mit Ausnahme seiner Tochter. Dass Irene ihn wieder erkennen würde, nach achtzehn Jahren, hielt er für ausgeschlossen. Sie war doch damals noch ein Kind gewesen.
Er jedenfalls erkannte sie nicht, schloss nur aus der Tatsache, dass sie ganz vorne am offenen Grab stand, dass sie es sein musste. Neben ihr stand ein junger Mann, ihr Mann, so wie es aussah. Eine Hand an ihrem Ellbogen, als müsse er sie stützen. Dabei sah sie nicht aus, als brauche sie einen Halt.
Groß war sie, fast so groß wie Merkel, sehr schlank, eher schon knochig. Sehr aufrecht stand sie da. Das immer noch zu dünne blonde Haar hatte sie unter einem schwarzen Hut verborgen. Das, wie Merkel etwas später feststellte, herbe Gesicht unter einem Schleier. Eine Schönheit war sie nicht, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, das machte es für ihn etwas leichter.
Viele gingen nach vorne, um zu kondolieren. Er nicht, er hätte nicht gewusst, was er ihr sagen sollte. Sie war ihm genauso fremd wie all die anderen. Er wollte nur abwarten, bis alle verschwunden waren, um dann noch einen Blick ins offene Grab zu werfen und sich zu verabschieden.
Als der Kondolenzstrom nachließ, drehte Irene sich um und damit in seine Richtung. Sie ging ein paar Schritte vom Grab weg, sah ihn und stutzte. Dann kam sie langsam auf ihn zu, hob dabei den Schleier von ihrem Gesicht.
Merkel sah, dass der junge Mann neben ihr versuchte, sie am Arm zurückzuhalten, dass er heftig auf sie einsprach, sie ihm etwas zuflüsterte und er daraufhin seine Bemühungen noch verstärkte. Aber sie schüttelte den Arm ab, kam die letzten Schritte. Als sie ihn erreichte, streckte sie ihm die Hand entgegen. Ihr zögernd fragendes «Papa?» hörte Merkel noch, als er zwei Jahre später an ihrem Grab stand.
5. Kapitel
Papa! Nach achtzehn Jahren! Und in den letzten drei hatte Irene nicht mehr daran geglaubt, ihn jemals wieder zu sehen. Dass er aus der Haft entlassen worden war, hatte sie natürlich sofort von Agnes erfahren. Kurt hatte sie gebeten, ihm ein paar Tage Zeit zu lassen, damit er sich wieder an die Freiheit gewöhnen könne. Aber nach ein paar Tagen war er schon umgezogen. Und Kurt sagte: «Er hat sich völlig in sich zurückgezogen, Irene, braucht wohl etwas mehr Zeit, um wieder Tritt zu fassen im Leben. Lass ihn erst mal in Ruhe.»
Das fiel ihr nicht einmal schwer. Sie wusste nur nicht genau, ob sie sich aus Respekt vor seinen verletzten Gefühlen von ihm fern hielt oder aus einer allmählich gewachsenen Gleichgültigkeit. Wenn sie an ihn dachte, dann mit Wehmut und Bedauern, aber nicht mehr mit Sehnsucht nach seinem starken Arm. So einen Arm brauchte sie nicht mehr. Sie stand mit beiden Beinen fest im Leben.
Sie betreute Familien im sozialen Abseits, allein erziehende Mütter, auch ein paar Jugendliche, bei denen es noch möglich schien, den totalen Abstieg zu verhindern. Jeden Tag sah sie Hilflosigkeit und Elend, erlebte Sprachlosigkeit und Abwehr, manchmal sogar Feindseligkeit. Es gab einige, die sich nicht helfen lassen wollten, denen sie zu Anfang ihre Unterstützung energisch aufdrängen musste.
Nur war er nicht irgendeiner, er war Papa. Acht Jahre lang ihr Held. Vier Jahre lang ein Engel im Himmel, dem sie auf Erden eine Pyramide hatte bauen wollen. Vier weitere Jahre ein gefallener Engel, dem sie ihre Hand hinhielt, um ihn wieder aufzurichten. Er hatte ihre Hand nicht gewollt. Und jetzt sagte Agnes oft: «Er ist ein sturer Hund, Irene. Mach dir um ihn keine Gedanken. Ihm ist nicht zu helfen.»
Gleichzeitig sagte sie jedoch: «Lange geht das nicht mehr gut. In der alten Gießerei konnte nicht viel passieren. Da haben sich nachts nur ein paar Ratten umgetan.»
Nur war er nicht mehr in der alten Gießerei. Die Firma hatte Konkurs angemeldet. Seitdem versah er seinen Wachdienst in einem Einkaufszentrum, in dem doch einiges zu holen war. Kurt hatte dafür gesorgt, dass er nur Nachtschicht machte, weil nachts schwere Rollgitter vor den Zugängen heruntergelassen waren und so leicht
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