Merkels Tochter. Sonderausgabe.
Gefühle – nein! Merkel wollte nur noch seine Ruhe, er hatte sie sich sauer genug erkämpft.
Während seine Tochter am ersten Sonntagnachmittag auf ihn wartete, saß er bei Kurt und Agnes. Sie sprachen über die Beerdigung. Agnes wollte wissen, ob er Irene gesehen habe. Leichtsinnigerweise erwähnte er die Einladung und rührte Agnes damit zu Tränen. Dass Irene ihn erkannt hatte nach all den Jahren, und dass sie ihn spontan einlud! Aber so war sie, herzensgut. Wenn er sie besuche, vielleicht am nächsten Sonntag, müsse er unbedingt schöne Grüße ausrichten.
«Ich werde sie nicht besuchen», sagte er, «weder am nächsten Sonntag noch am übernächsten.»
«Warum denn nicht, Hein?», fragte Agnes verständnislos.
«Du kannst doch nicht so tun, als ob sie nicht existiert. Denk doch, sie ist auf dich zugekommen. Sie kann doch nichts dafür, Hein.»
Natürlich nicht! Darum ging es doch auch gar nicht.
Trotzdem fuhr er an einem der folgenden Nachmittage in die Ebertstraße. Nur mal sehen, wie sie lebte. Wie es aussah, sehr gut. Das Haus Nummer 26 war nicht übel. Ein Mietshaus, hatte Agnes ihm erzählt, aber sehr gepflegt, nur sechs Parteien insgesamt. Sie und ihr Mann hatten eine Wohnung im Dachgeschoss, wie er aus der Anordnung der Klingeln ersehen konnte.
Natürlich klingelte er nicht, ging davon aus, dass Irene gar nicht zu Hause war. Immerhin hatte sie ja einen Beruf. Er schaute sich nur die Fassade und die Fenster im Dachgeschoss an. Dann stieg er wieder auf sein Rad und fuhr weiter wie einer, der nur einen Nachmittag in der Sonne genießt.
Sechs Wochen später kam sie zu ihm, kam einfach an einem Montagabend in die Kneipe, wo er seine wenigen Bekanntschaften pflegte. Viele waren es wahrhaftig nicht. Und es war auch einer dabei, den Merkel im Gefängnis kennen gelernt hatte, wie ihr Mann es befürchtete. Ohloff, ein verrückter Hund und leider auch ein sehr anhänglicher. Merkel konnte tun, was er wollte, Ohloff hing an ihm wie eine Klette, begriff gar nicht, wie sehr er ihm auf die Nerven ging.
Als Merkel noch in der alten Gießerei gearbeitet hatte, brachte Ohloff es fertig, einfach dort aufzutauchen mitten in der Nacht. «Ich wollte nur mal sehen, was du machst, Hein. Wie läuft’s denn so?» Wie sollte es schon laufen in einer alten Gießerei? Nachts lief da überhaupt nichts, man musste trotzdem die Augen offen halten.
Als Merkel ihm strikt untersagte, ihn im Dienst zu belästigen, machte Ohloff es sich zur Gewohnheit, dreimal in der Woche vor seiner Zimmertür aufzutauchen, immer mit einem Tablett auf der Hand, auf dem zwei Kuchenstücke lagen, Butterstreusel! Nur weil Merkel einmal erwähnt hatte, dass er sich nichts aus Kuchen mache, aber Butterstreusel, den äße er schon mal gerne.
Wenn er sagte, er habe keine Zeit mehr für eine ausgedehnte Kaffeestunde, müsse gleich zum Dienst, habe jetzt auch überhaupt keinen Appetit auf Butterstreusel, erklärte Ohloff: «Macht doch nichts, Hein, du kannst ihn ja mit zur Arbeit nehmen.» Und dann bot er noch an, ihn dorthin zu fahren.
Wies Merkel ihn darauf hin, dass er dann am nächsten Morgen nicht wisse, wie er zurück in die Stadt kommen solle, überschlug Ohloff sich fast. «Ich hol dich natürlich auch wieder ab, Hein, ist doch selbstverständlich. Ist doch gar kein Problem.»
Ohloff begriff nicht, dass er das Problem war. Er erzählte Merkel bei jeder Gelegenheit von den Schwierigkeiten, in die er sich regelmäßig selbst hineinmanövrierte. Offenbar erhoffte er sich irgendeine Form von Hilfe. Einmal hatte er ihm einen Arm um die Schultern gelegt und mit einem sonderbaren Unterton festgestellt: «Rein altersmäßig könntest du ja mein Vater sein, Hein.» Das fehlte wirklich noch.
Ohloff war Anfang dreißig, gut einsneunzig groß, sehr kräftig, aber nicht dick. Er sah aus wie ein Bauarbeiter, arbeitete auch zeitweise am Bau. Doch er hielt sich nirgendwo lange, brauchte immer nur ein paar Wochen, um sämtliche Kollegen und Vorarbeiter gegen sich aufzubringen. Es lag an seinem Jähzorn, er schlug immer gleich zu. Da reichte ein nichtiger Anlass. Ohloff hatte keinerlei Kontrolle über sich. Nur bei Merkel, da katzbuckelte er ununterbrochen.
Auf Frauen wirkte er durchaus anziehend mit seiner Figur, dem leicht gelockten, dichten blonden Haar und dem für einen Mann ausgesprochen hübschen, eigentlich zu weichen Gesicht. Aber Merkel hätte es keiner Frau empfohlen, sich näher mit Ohloff zu befassen. Das war einer von der Sorte, die kein Nein
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