Merkels Tochter. Sonderausgabe.
jedenfalls nie so benommen. Friedel war dein Vater in den letzten achtzehn Jahren.»
Friedel war ein Mann nach seinem Geschmack gewesen: beruflich erfolgreich, sehr vermögend, mit dem entsprechenden Freundeskreis und geschäftlichen Kontakten, die das Herz eines Bankkaufmanns, der sein Glück als Investmentberater versuchte, zwangsläufig höher schlagen ließ.
«Mein Schwiegervater», hatte Gernot schon vor der Hochzeit voller Stolz gesagt.
Dass es einen weiteren Schwiegervater gab, einen armen Schlucker, einen nur auf dem Gnadenweg entlassenen Mörder, gefiel ihm gar nicht. Wer wusste denn, welche Beziehungen ihr Vater in den fünfzehn Jahren seiner Haft geknüpft hatte, welches Gesindel in seiner Gefolgschaft auftauchte? Wenn man sich auf ihn einließ, hätte man am Ende noch ein paar Psychopathen mehr am Hals und vielleicht eines Tages ein Messer an der Kehle.
«Du hast doch einen Knall», protestierte sie. «Psychopathen! Du hast überhaupt keine Ahnung, wie er wirklich ist und warum er damals geschossen hat. Sprich mal mit Agnes darüber. Oder frag dich, warum Agnes und Kurt nicht zur Beerdigung gekommen sind.»
Kurt hatte dienstliche Gründe vorgeschoben und Agnes einen dringenden Zahnarztbesuch. «Eine Wurzelentzündung, Irene. Das hat heute Nacht angefangen, ich geh vor Schmerzen die Wände hoch und bin heilfroh, dass ich den Termin bekommen habe. Friedel wird mir verzeihen, wenn ich nicht komme. Blumen aufs Grab legen kann ich ihm ja auch später mal, wenn die großen Berge abgeräumt sind.»
Dann bekäme Friedel vermutlich einen Strauß, der sich sehen lassen konnte. Agnes würde ihn so hinlegen, dass nur ja keine Blume das zweite Grab berührte. Agnes hätte keine Wurzelbehandlung erfinden müssen, es war klar, dass sie nicht einer Frau die letzte Ehre erweisen wollte, die ihrer Ansicht nach ein paar Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Irene verstand das.
Gernot verstand sie allerdings nicht. «Ich behaupte nicht, dass deine Mutter ein Engel war», sagte er. «Aber das gab ihm nicht das Recht, einen Mann zu erschießen. Wir leben doch nicht im Wilden Westen. Wenn er nur einen Funken Gefühl im Leib gehabt hätte, hätte er sich anschließend ein paar Gedanken um dich gemacht. Er kennt nur sich selbst. Du musst dich nicht von ihm verletzen lassen, Liebling.»
Seit Friedels Tod nannte er sie «Liebling». Dass er sie damit nur über ihren Verlust hinwegtrösten wollte, glaubte sie nicht so recht. Sie war die Alleinerbin von Friedels Vermögen. Und Gernot hatte in den vergangenen Tagen schon ein paar Berechnungen angestellt, wie man den unerwarteten Segen am besten mehren könnte.
Sonntags wartete sie. Allein! Gernot zog es vor, die Wohnung nach dem Mittagessen zu verlassen, wollte sich nicht anschauen, wie sie um Liebe bettelte bei einem Mann, der vermutlich nicht einmal wusste, wie man das Wort buchstabierte. Den halben Nachmittag saß sie vor den alten Fotografien, die sie vor achtzehn Jahren aus dem Mülleimer gerettet hatte, und überlegte, ob sie ihm die zeigen sollte, wenn er kam. Aber er kam nicht.
6. Kapitel
Am Abend der Beerdigung hatte Merkel in seinem möblierten Zimmer gesessen und überlegt, ob er auf ein Bier in seine Stammkneipe gehen sollte. Ihm war nicht danach. Das zögernd fragende «Papa» klang ihm im Ohr und ihre Einladung, erst zum Beerdigungskaffee, dann für einen Sonntag. Die Visitenkarte lag vor ihm auf dem Tisch. Rund ein Dutzend Mal las er: Gernot Brandes, Bankkaufmann, Ebertstraße 26, und eine Telefonnummer. Und jedes Mal sah er diesen Schnösel vor sich, der versucht hatte, sie zurückzuhalten.
Zeit hätte er gehabt an den Sonntagen. Aber Lust? Nicht die Spur. Wozu sollte das gut sein? Genau genommen waren er und seine Tochter zwei Fremde, zwei Leute, die sich achtzehn Jahre nicht gesehen hatten. Und auch davor hatten sie sich nicht allzu viel zu sagen gehabt.
«Gute Nacht, Papa», zwei dünne Arme im Nacken und ein feuchter KUSS auf die Wange. «Gute Nacht, Irene», und mit dem Handrücken die Wange abgewischt. Kleine Kinder waren nie sein Fall gewesen.
Er hatte damals alles, was er an Liebe geben konnte, für seine Frau gebraucht. Für Heike hatte er alles getan, sich sogar mit Irene beschäftigt, wenn sie ihn darum bat. Aber Heike war die Einzige gewesen. Es hatte vor ihr keine gegeben, es konnte nach ihr keine geben. Und eine Tochter, die am Ende von ihm erwartete, dass er sich für irgendetwas entschuldigte oder ihr etwas erklärte, womöglich seine
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