Merkels Tochter. Sonderausgabe.
ging doch nicht. Da mochte Friedel noch so viele schwierige Mathematikaufgaben erklären, die allerbesten Formulierungen für einen Aufsatz finden, noch so viele Partien Monopoly mit ihr spielen, wenn sie alleine waren, für Irene änderte das nichts.
Es ging ihr sehr gut bei Friedel, ihr Zimmer war um einiges größer, die Garderobe um einiges teurer, als sie es gebraucht hätte. Auch das Taschengeld wurde mit der Zeit immer höher. Kaum ein Wunsch blieb lange unerfüllt. Bis auf den einen, noch einmal Papas Arm um die Schultern zu spüren, mit ihm Autoscooter zu fahren und Geisterbahn. Oder an seiner Hand durch den Tierpark zu schlendern, da waren sie auch einmal gewesen, nicht allein. Ihre Mutter war dabei. Papa hatte den Arm um Mutters Schultern gelegt und für Irene bloß eine Hand frei. Aber das reichte ihr. An Papas Hand war sie völlig sicher.
Mit zwölf schrieb sie darüber einen Aufsatz, den Friedel anschließend wie üblich verbessern wollte. Als er es las, bot er ihr sofort einen Besuch im Tierpark an, aber das wäre nicht dasselbe gewesen. Friedel verstand das, böse war er ihr nicht, vielleicht nur ein bisschen traurig. Er schaute sie so merkwürdig an, als müsse er sehr lange über etwas nachdenken. Und dann fragte er: «Möchtest du wissen, wie es ihm geht?»
Wie hätte es ihm schon gehen sollen? Sehr gut, hoffte Irene, obwohl ihre Vorstellung von einem Himmel mit ewigem Sonnenschein, Musik und gutem Essen mit den Jahren und den Büchern aus Friedels Bibliothek brüchig geworden war. Aber dass ihr Vater an einem Ort sein könnte, der alles andere als himmlisch war, der Gedanke war ihr noch nicht gekommen.
2. Kapitel
Schon in den ersten Jahren im Gefängnis hatte Merkel nur selten an seine Tochter gedacht, mit der Zeit vergaß er beinahe völlig, dass sie existierte. Hin und wieder, wenn er die wenigen Bücher auf dem kleinen Regal an der Zellenwand umsortierte, fiel ihm ein Foto in die Hände. Das letzte, das vor seiner Verhaftung gemacht worden war. Darauf war Irene acht Jahre alt. Ein für sein Alter zu groß geratenes, dürres und verlegen grinsendes Geschöpf mit zwei lächerlich dünnen blonden Zöpfen und einer Ähnlichkeit mit ihm, die ihn eigentlich hätte ansprechen müssen. Aber auf dem Bild stand sie neben ihrer Mutter, deshalb hatte er keine Augen für sie.
All die Jahre hindurch stellte er sich nicht einmal vor, wie sie heranwuchs, erst zum Teenager, dann zur Frau wurde. Nicht einmal fragte er sich, wie es ihr wohl ergehen mochte, ob sie ihn vermisste, ob sie litt, von Schulkameraden gehänselt oder sonst wie malträtiert wurde. Ob sie Schwierigkeiten hatte, Freunde zu finden, einen Beruf zu ergreifen. Oder wie sie sich mit der Tatsache auseinander setzte, dass ihr Vater ein Mörder war.
Wenn er das Foto betrachtete – was selten genug vorkam, wenn es aus dem Buch fiel, steckte er es meist augenblicklich zurück zwischen die Seiten –, sah er nur die Frau. Heike, eine schöne Frau, seine Frau, bildschön, das sagten alle. Und das hatte sie hören wollen, so oft wie eben möglich.
Er hatte sie mehr geliebt, als gut war für einen Mann, der sich seinen Stolz bewahren wollte, seine Würde und die Selbstachtung. Er hatte sie so sehr geliebt, dass er manchmal fast ein wenig verrückt darüber geworden war. Wenn er im Gefängnis an sie dachte, dann immer mit dem Bewusstsein, dass es vorbei war. Aber ganz vorbei war es nicht, konnte es doch gar nicht, solange sie lebte. Etwas mehr als zehn Jahre waren sie verheiratet gewesen. Kein Tag davon ließ sich auslöschen.
Irene hatte irgendwie dazugehört, doch sehr viel zu tun gehabt mit seiner Tochter hatte Merkel nie. Zuerst war sie zu klein, viel zu zerbrechlich. Da hatte er jedes Mal befürchtet, etwas kaputtzumachen. Solange sie noch ein Säugling gewesen war, hatte er sie vielleicht drei- oder viermal im Arm gehalten, und regelmäßig hatte Heike gemahnt: «Vorsicht, Hein, ihr Köpfchen.» Oder ihr Ärmchen oder ihr Rücken, irgendwas hielt er immer falsch. Als sie etwas robuster wurde, war er beruflich schon sehr stark eingespannt, kam abends oft erst heim, wenn sie längst schlief, verließ die Wohnung morgens, bevor sie aufwachte.
Kriminalhauptkommissar war er gewesen, zuständig für Kapitaldelikte. Man brauchte Pflichtbewusstsein und diese Portion an Sturheit, die einen am Ball zu bleiben hieß, auch wenn es aussichtslos schien. Eine Menge Überstunden hatte er geschoben, aber ohne den Ehrgeiz, auf der Karriereleiter weiter nach
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