Merkels Tochter. Sonderausgabe.
beitragen.
Und genau das tat Agnes in den folgenden Jahren. Sie kümmerte sich wie eine Mutter um Irene und formte aus ihr den Menschen, der sie am Ende war: bescheiden, tüchtig und hilfsbereit, aber auch energisch, hartnäckig und willensstark. Eine Tochter, auf die jeder Vater stolz gewesen wäre. Nur war Merkel nie ein Vater gewesen. Er war bloß ein Mann, dem man das Herz aus dem Leib gerissen hatte.
Agnes erklärte auch das, erzählte in den Stunden, die Irene bei ihr verbrachte, von dem jungen Hein, so wie sie ihn damals kennen gelernt hatte. Unbeholfen und unsicher in Gefühlsdingen, weil lange niemand da gewesen war, der ihm Gefühle gezeigt hätte. Seinen Vater hatte er in Russland verloren und seine Mutter bei der Flucht aus Ostpreußen. Sie war erfroren. Irgendeine mitleidige Seele hatte sich erbarmt, den kleinen Buben mitgeschleppt und ihn beim Roten Kreuz abgeliefert.
Dann war er einige Jahre in einem Heim gewesen, wo Oma Seifert als junge Frau gearbeitet hatte. Sie hatte ihn wohl lieb gewonnen, aber als sie heiratete, blieb er zurück. Doch Oma Seifert konnte ihn nie ganz vergessen, weil er zu Weihnachten, Ostern und ihrem Geburtstag immer eine Karte schrieb.
Kurt wurde geboren und blieb trotz aller Bemühungen ein Einzelkind. Als er heranwuchs, sagte er oft, er hätte gerne einen Bruder, am liebsten einen großen, der ihm auf der Straße und dem Schulhof zur Seite stünde, wenn die anderen ihn wegen seiner abstehenden Ohren hänselten. Von Hein kamen immer noch drei Karten pro Jahr. Da holte Oma Seifert ihn eben zu sich.
Er war schon zwölf, und was an ihm versäumt worden war, ließ sich nicht mehr nachholen. Oma Seifert war auch keine Frau gewesen, die ihr Herz auf der Zunge trug oder einen Jungen mal spontan in den Arm nahm. Das tat sie nicht einmal bei Kurt. Zu der Zeit meinte man noch, Jungs dürften nicht verzärtelt und verweichlicht werden. Und so hatte er zwar ein Zuhause, ein warmes Bett, geregelte Mahlzeiten, in Kurt sogar einen Bruder, aber er blieb trotzdem irgendwie allein – bis er Heike begegnete.
«Du kannst dir gar nicht vorstellen, was sie ihm bedeutet hat, Irene», sagte Agnes. «Du warst ja damals noch klein, für Kinder ist es normal, dass Eltern sich lieben. Aber er hat sie nicht einfach nur geliebt, er hat sie vergöttert, sie war seine Welt. Zu Anfang habe ich deine Mutter beneidet. Kurt – ich will mich bestimmt nicht über ihn beklagen, er war immer ein aufmerksamer und liebevoller Mann, aber auf seine Art ist er auch sehr nüchtern. Trotzdem war dein Vater verglichen mit ihm immer ein steifer Klotz, bis er sie kennen lernte. Danach erkannte man ihn nicht wieder. Plötzlich konnte er sogar tanzen, war in Gesellschaft locker und witzig. Ich habe oft gedacht, wenn er dahinter kommt, was mit Heike los ist, gibt es eine Katastrophe. Die haben wir dann ja auch bekommen. Sie hat nie begriffen, was sie ihm angetan hat. Vielleicht können wir es auch nicht begreifen.»
Irene begriff es wohl mit der Zeit. Und gleichzeitig stellte sie fest, dass sie ihn nicht mehr brauchte, jedenfalls nicht mehr als den starken Mann mit magischen Kräften. Sie kam alleine zurecht in ihrem Leben, wusste, was sie wollte, und wusste auch, wie sie ihre Ziele erreichte.
Mit zwanzig verliebte sie sich in Gernot Brandes, sein Vater war Immobilienmakler und einer von Friedels Stammklienten. Gernot hatte gerade seine Ausbildung zum Bankkaufmann beendet, als sie sich kennen lernten. Er war ein gut aussehender Mann, vom Wesen her ganz anders als sie. Agnes stellte das einmal fest, als Irene ihn auf einen Besuch mitbrachte.
«Gegensätze ziehen sich an», sagte sie. «Wer weiß, wozu das gut ist.»
Mit einundzwanzig ließ Irene sich von Gernot Brandes einen Verlobungsring über den Finger streifen und zog mit ihm in eine Wohnung, in der sie sich entschieden wohler fühlte als in Friedels Villa. Sie begann zu arbeiten in einem Beruf, der ihr täglich vor Augen führte, wie gut es ihr ging, und der ihr das Gefühl gab, von vielen gebraucht zu werden. Sozialarbeiterin war sie geworden und zufrieden mit ihrem Leben.
4. Kapitel
Das war Merkel zu der Zeit eigentlich auch. Nicht, dass er sich im Gefängnis rundum wohl gefühlt hätte. Vor allem in den ersten Jahren war es nicht leicht für ihn gewesen. Ein ehemaliger Bulle, ein gefundenes Fressen für die anderen, darunter auch ein paar, die er selbst hinter Gitter gebracht hatte. Die ließen sich etwas einfallen, um ihm das Leben so sauer wie nur möglich
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