Merlin und die Fluegel der Freiheit
wütenden Befehle von Rhita
Gawr, zu bleiben und zu kämpfen. Aufs Neue ermutigt verfolgten Fincayraner aller Art – Zwerge und Riesen, Vierbeiner und Zweibeiner, Leuchtfliegen und Moorghule – die Geisterkrieger. Innerhalb von Minuten war
aus der Invasion eine wilde Flucht geworden.
Mitten im Chaos blieb Rhita Gawr im Kreis, trampelte herum und schrie hysterisch seine Truppen an. »Kommt hierher zurück,
ihr feigen Faulpelze! Verfluchte Narren! Jetzt, sage ich. Wie wagt ihr es, zurückzuweichen, bevor ich den Befehl gebe? Bleibt
hier und kämpft, ihr ängstlichen, kleinmütigen, hirnlosen Idioten!«
Minutenlang fluchte er gehässig und spuckte Befehle aus, schleuderte Blitzstrahlen, die an den Steinen explodierten, schoss
Flammensäulen in die Luft. Auf Krieger, die ihm in den Weg liefen, schlug er gnadenlos ein und drohte sie bis in alle Ewigkeit
zu foltern, wenn sie nicht gehorchten. Trotzdem wuchs die Menge der Deserteure; Welle um Welle ergoss sich in den Tunnel.
Rhita Gawrs Soldaten bekämpften einander, um fliehen zu können.
Endlich stand der besiegte Kriegsherr allein vor dem gähnenden Loch, das er zwischen den Welten geöffnet hatte. Ruß und Blut
befleckten seine Tunika und sein Haar sah völlig zerzaust aus. Entgeistert starrte er auf seine Umgebung, seine vom Mond beleuchtete
Gestalt erstrahlte vor dem schwarzen Loch.
Als er mich über den Ring hinweg sah, ballte er beide Fäuste und schüttelte sie. »Du Plage! Nichtswürdiger Zauberer. Du hast
das getan!« Er hob seine schon leuchtende Hand und zeigte direkt auf mich. Die Luft um seinen ausgestreckten Finger knisterte
und ich wusste, dass gleich ein Blitzstrahl hervorbrechen würde.
In diesem Moment rannten sechs oder sieben Kriegergoblins, von schreienden Moorghulen verfolgt, direkt in ihn hinein. Der
Blitzstrahl schoss in den Himmel und beleuchtete die schneegesprenkelten Hügel. Wie eine ansteigende Welle trugen die fliehenden
Krieger Rhita Gawr rückwärts, während sie verzweifelt zu fliehen versuchten. Ohne auf die Schreie ihres Anführers zu achten
stürzten sie in den Tunnel.
Gerade bevor Rhita Gawr das Loch erreichte, stieß Verdruss herab und pickte ihn heftig in die Stirn. Der zornige Schrei des
Kriegsherrn stieg in die Luft und hörte abrupt auf, als Rhita Gawr und die anderen ins Dunkel fielen.
Verdruss machte einen scharfen Schwenk und flog auf mich zu. Er umkreiste meinen Kopf einmal dicht genug, um mein Ohr mit
der Flügelspitze zu streifen. Es fühlte sich noch zarter an als die kostbare Feder in meinem Beutel, mehr ein Hauch als eine
Berührung. Er pfiff triumphierend und mein Herz schwang sich zu ihm. Noch einmal umkreiste er mich und flog dann direkt in
das Loch, gerade als es sich in die Erde zurückzog und völlig verschwand.
Hallia kam zu mir, sie schob ihren Arm unter meine dicke Jacke und um meine Taille, während ich meinen um ihre Schulter legte.
Schweigend sahen wir zu, wie der Mond tiefer sank und der östliche Himmel allmählich heller wurde. Ein schwacher rosa Streifen
mit azurblauen Linien erschien am Horizont. Irgendwo unten am Hang zwitscherte ein Brachvogel seinen Morgengruß. Nicht weit
entfernt antwortete ein Gefährte, der seinen eigenen Gruß an den Tag sang. Fincayras längste Nacht war zu Ende.
Von irgendwo auf der Höhe mischte sich ein fernes Horn in das Lied der Brachvögel. Dann erklangen zarte Harfentöne unter dem
heller werdenden Himmel. Eine Flöte trillerte, dann eine zweite und mehrere Singvögel. Sie alle und noch mehr vereinigten
sich zu einem Chor, dessen Lied über die Hänge schallte.
Ich erinnerte mich an Fins prophetische Ballade:
Kehrt Land, längst vergessen,
Zur Küste zurück,
Sind Feinde von früher
Vereint, scheint das Glück
Verbürgt, denn es jubelt
Im Himmel und nah:
Das Gleichgewicht stimmt und
Die Flügel sind da.
Hallia und ich umarmten uns fester. Denn dieser Augenblick gehörte uns und konnte nie verloren gehen.
XXXIV
DIE VEREINIGUNG
I n den nächsten Tagen schlugen die Fincayraner ihr Lager beim Steinkreis auf. Obwohl sie viel zu feiern hatten, mussten sie
auch viel betrauern. Und viel tun: Es war an der Zeit, die Toten zu begraben, die Vermissten zu suchen und die Verletzten
zu verbinden – und jene zu beklagen, die wie Cairpré ihr Leben gegeben hatten.
Trotzdem lag etwas Mächtigeres als Leid in der frischen Winterluft. Von den Hügeln rundum hallten nicht mehr himmlische Klänge,
sondern eine ganz
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