Merlin und die Fluegel der Freiheit
oder ausgestreckt auf dem blutigen Boden. »Die Freunde, die deinetwegen heute Nacht
ihr Leben verloren haben.«
Meine narbenbedeckten Wangen brannten. »Das ist nicht wahr. Alle diese Menschen sind nicht für mich hier, sondern für Fincayra.«
»Ach, natürlich. Wie ungeschickt von mir das zu vergessen! Fincayra – war das nicht der Name einer Insel? Einer Welt, die
einmal existierte?«
Die Antwort blieb mir in der Kehle stecken. Denn ich konnte die Wahrheit seiner Worte nicht bestreiten. Direkt neben mir war
eine Tanne gegen eine Säule gefallen und wurde von wimmelnden Eidechsen in Stücke gerissen; zwei kräftige Zwerge waren gerade
von der Lanze eines Geistergoblins aufgespießt worden und mein alter Freund und Mentor lag tot auf dem Boden. Mit jeder Sekunde
wuchs die Zahl der Toten und Verwundeten – und die Überlebenschancen unserer Welt schwanden.
Rhita Gawr grinste. »Deine armselige kleine Armee«, er machte eine lässige Geste, »hat schon verloren.« Seine leeren Augen
funkelten mich an. »Und du auch.« Er hob den Arm und deutete drohend auf mich. »Ein Blitzschlag sollte reichen. Ja, einer,
der stark genug ist auch deine Asche zu vernichten.«
»Nein!«, protestierte Hallia und ließ Cairprés leblose Hand fallen. »Töte ihn nicht, bitte.« Sie stand auf und hinkte zu mir,
sie zitterte am ganzen Körper. Ich versuchte sie hinter mich zu schieben, aber sie ließ es nicht zu.
Der Kriegsherr der Anderswelt täuschte einen sorgenvollen Blick vor, während er den Kopf an die Säule neben sich lehnte. »Ah,
Hirschfrau, du machst alles so kompliziert. Ich freue mich schon seit einiger Zeit darauf, deinenFreund hier zu töten. Und da mein Soldat mit den Schwertern es nicht schaffte, muss ich es selbst tun.«
Lässig trommelte er mit den Fingernägeln auf seiner Tunika. »Aber wenn du darauf bestehst wie ein braves kleines Mädchen,
dann töte ich dich zuerst. Dann hat er auch das Vergnügen, deinen Tod zu verschulden.«
»Du bist ein Feigling«, erklärte ich.
Sein Gesicht verdüsterte sich. »Und du bist ein Narr. Einer, der bald sterben wird.«
Die Spitze seines Zeigefingers begann rot zu glühen, während der Blitzschlag entstand, der gleich einschlagen würde. Die Schlacht
tobte weiter um uns, aber einen flüchtigen Moment sah ich nichts als Rhita Gawr: das zunehmende Licht an seinem Finger, die
hinterhältige Leere seiner Augen. Sein Finger zuckte, bereit den Schlag loszuschicken.
Plötzlich schoss eine silbrige Gestalt aus dem Nachthimmel. Sie stürzte herunter und pfiff dabei scharf, bevor sie mit aller
Kraft in Rhita Gawrs Arm schlug. Der Blitzschlag explodierte mit dröhnendem Krach, verfehlte aber das geplante Ziel und schlug
in die Eidechsenhorde, die an dem gefallenen Baum nagte. Rote Flammen verschlangen sie. Der Kriegsherr brüllte wütend und
umklammerte durch die zerrissene Tunika seinen Arm.
So schnell wie sie gekommen war, verschwand die Gestalt in den silbernen Strahlen des Mondes hoch am Himmel. Doch nicht bevor
ich ihren Umriss sah. Genau wie ich das Pfeifen gehört und die Kühnheit erkannt hatte. Mein Freund Verdruss war zurückgekehrt!
Er musste Rhita Gawr aus der Anderswelt gefolgt und dann leise über ihm gekreist sein bis zu dem Moment, in dem wir ihn brauchten.
Dem Moment, in dem ich ihn brauchte. Ganz der Falke, den ich so gut kannte!
Hallia und ich sahen in den Himmel hinauf – genau wie Rhita Gawr, der vor Wut kochte. Obwohl wir alle nach dem Falken Ausschau
hielten, sahen wir stattdessen etwas Seltsames. So unerklärlich seltsam, dass ich ungläubig rückwärts stolperte und auf die
schiefe Säule hinter mir prallte.
Siebzig oder achtzig Figuren, hell unter dem leuchtenden Mond, flogen auf uns zu. Sie schwebten ständig näher, ihre Körper
schnellten mit den Windstößen auf und ab wie ein Schwarm unbeholfener Vögel. Aber das waren keine Vögel, überhaupt keine Geschöpfe
mit Flügeln. Das waren Kinder.
Die Kinder.
Ich richtete mich am Steinblock auf und beobachtete, wie sie näher kamen. Rasch segelten sie mit ausgestreckten Armen und
Beinen auf unsere Hügelspitze zu, ihre zerrissenen Kleider schlugen ihnen an die Körper. Sie flogen! Aber ohne Flügel. Wie?
An der Spitze sah ich einen kleinen Jungen, sein Gesicht leuchtete im Mondlicht. Lleu! Der Wollschal, der einst Cairpré gehört
hatte, flatterte hinter im her. Auf einer Seite war Medba – sie flog verkehrt herum, ihr Haar wehte wie verrückt. Auf
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