Merlin - Wie alles begann
Baumnymphen.« Sie schaute mich wehmütig an. »Ich wollte, ich könnte dir ein paar Geschichten
über sie vorlesen in den eigenen Worten der Griechen. Sie erzählen sie so viel besser, als ich es kann! Und diese Bücher .
. . Emrys, ich habe einen Raum voller Bücher gesehen, so dick und verstaubt und einladend, dass ich mich am liebsten mit einem
im Schoß hingesetzt und nichts anderes getan hätte als den ganzen Tag zu lesen. Ich hätte gelesen bis spät in die Nacht, bis
ich einschliefe. Und dann, während ich schlief, hätten mich vielleicht die Dryaden oder Apollo selbst besucht.«
Sie unterbrach sich. »Habe ich dir nie Geschichten über Dagda erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Was hat das mit Apollo zu tun?«
»Nur Geduld.« Sie nahm wieder etwas Salbe und arbeitete weiter. »Die Kelten, die lange genug in Gwynedd lebten, um von der
heiligen Zeit zu wissen, haben viele eigeneApollos. Ich hörte von ihnen als Kind, lange bevor ich lesen lernte.«
Ich fuhr hoch. »Du bist Keltin? Ich dachte, du seist von . . . von dort, wo ich auch her bin, von jenseits des Meeres.«
Ihre Hände spannten sich. »Das stimmt. Aber bevor ich dorthin ging, lebte ich hier in Gwynedd. Nicht in diesem Dorf, sondern
in Caer Myrddin, das nicht so bevölkert war wie heute. Lass mich jetzt weitermachen.«
Ich nickte gehorsam. Was sie gesagt hatte, gab mir neuen Auftrieb. Es war nicht viel, aber es war das erste Mal, dass sie
mir überhaupt etwas über ihre Kindheit erzählte.
Sie nahm ihre Arbeit und ihre Geschichte wieder auf. »Dagda ist einer dieser Apollos. Er ist einer der mächtigsten keltischen
Geister, der Gott vollkommenen Wissens.«
»Wie sieht Dagda aus? In den Geschichten, meine ich.«
Branwen nahm den Rest der Salbe aus der Schüssel. »Ah, das ist eine gute Frage. Eine sehr gute Frage. Aus Gründen, die nur
er selbst kennt, zeigt Dagda nie sein wahres Gesicht. Er nimmt zu verschiedenen Zeiten verschiedene Gestalten an.«
»Zum Beispiel?«
»Einmal, in einer berühmten Schlacht mit seinem größten Feind Rhita Gawr, nahmen beide die Gestalt mächtiger Tiere an. Rhita
Gawr wurde ein riesiger Keiler mit schrecklichen Hauern und blutroten Augen.« Sie schwieg und versuchte sich zu erinnern.
»Ja. Und einer Narbe auf der ganzen Länge eines seiner Vorderbeine.«
Ich erstarrte. Die Narbe unter meinem Auge, wo derHauer des Keilers mich vor fünf Jahren verletzt hatte, fing an zu brennen. Seit damals war in mancher dunklen Nacht der gleiche
Keiler erschienen und hatte mich im Traum wieder angegriffen.
»Und in dieser Schlacht wurde Dagda . . .«
»Ein großer Hirsch«, ergänzte ich. »Bronzefarben bis auf die weißen Hufstiefel. Sieben Enden auf jeder Seite seines Geweihs.
Und Augen so tief wie der Raum zwischen den Sternen.«
Überrascht nickte sie. »Du hast also die Geschichte schon gehört?«
»Nein«, gab ich zu.
»Wie kannst du das dann wissen?«
Ich atmete lange und langsam aus. »Ich habe diese Augen gesehen.«
Sie erstarrte. »Wirklich?«
»Ich habe den Hirsch gesehen. Und auch den Keiler.«
»Wann?«
»An dem Tag, an dem wir an Land geschwemmt wurden.«
Sie betrachtete mich aufmerksam. »Haben sie gekämpft?«
»Ja! Der Keiler wollte uns töten. Vor allem dich, nehme ich an, wenn es wirklich ein böser Geist war.«
»Warum sagst du das?«
»Nun, weil du . . . du warst! Und ich war damals nur ein magerer kleiner Junge.« Ich betrachtete mich und grinste. »Im Gegensatz
zu dem mageren großen Jungen, der ich jetzt bin. Jedenfalls hätte der Keiler uns bestimmt getötet. Aber dann erschien der
Hirsch und verjagte ihn.«Ich berührte die Narbe unter meinem Auge. »So habe ich das hier bekommen.«
»Du hast es mir nie erzählt.«
Ich sah sie scharf an. »Es gibt auch viel, was du mir nie erzählt hast.«
»Du hast Recht«, sagte sie kleinlaut. »Wir haben uns einige Geschichten über andere erzählt, aber sehr wenig über uns. Es
ist mein Fehler.«
Ich sagte nichts.
»Aber eins will ich dir jetzt sagen. Wenn dieser Keiler – Rhita Gawr – nur einen von uns hätte töten können, dann wäre nicht ich es gewesen.
Du
wärst es gewesen.«
»Was? Das ist absurd! Du bist es, die so viel weiß, so viel Heilkraft hat.«
»Du hast weitaus mehr Kräfte!« Ihr Blick ließ meinen nicht los. »Hast du sie schon gespürt? Dein Großvater hat mir einmal
erzählt, dass sich seine in seinem zwölften Jahr bemerkbar machten.« Sie hielt erschrocken den Atem an. »Ich
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